TA
Birgit KUMMER

"Das Angebot Leben ist genial"

22. okt 1994

TA sprach mit Herman van Veen über seine Ängste, seine Traume und über Deutschland

Erschöpfung und Begeisterung bringt er aus dem Konzert mit ins Gespräch. Der Abend hallt nach, hält ihn lang noch gefangen. Auch in der Unterhaltung nach einem fast vierstündigen Auftritt stößt man auf einen ehrlichen, fragenden, zweifelnden und forschenden Herman van Veen.


Sie haben ein Bein noch drüben im Saal?
Ja. Und den Kopf und das Herz. Wenn ich sehe, was ich singe, dann ist es in Ordnung. Und heute war das so.

Das Programm ist anders als vor einem halben Jahr in Leipzig.
Bis auf ein paar Sachen, ja. Das Ganze ist wieder eine Geschichte, auf unkonventionelle Manier erzählt. Dramaturgisch vielleicht etwas schwierig nachvollziehbar. Es beginnt mit Rosa. Und mit dem Wind. Das Mädchen Rosa kommt an diesem Abend immer wieder. In vielen Gestalten. Und ich werde sie trotzdem nie finden. Das ist wie bei einem Sandläufer, einer Sanduhr. Da ist Glas, das kippt man um, Sand läuft durch, man kippt es wieder um. Ich bin das Glas, das Holz, der Sand. Oder nimm das Lied „Ange-lo“, die Ode an einen toten Freund, der an Aids gestorben ist. Wir wollten noch soviel miteinander machen. Aber auf einmal ist es vorbei. Schluß. Es sind schon verdammt viele Menschen, die zwar noch bei uns sind, aber die es nicht mehr gibt. Entweder man wird alt - oder man stirbt jung. Ich habe meine Stimme noch.

Sie haben auch Freunde in der Ex-DDR verloren?
Wenn man sieht, wie das hier verändert ist - als ob nichts stattgefunden hat. Damit habe ich enorm viel Mühe. Ich bin viel zu langsam für diese Zeit. Die Mauergeschichte snie>lt im Bewußtsein von einem Fünfzehnjährigen schon absolut keine Rolle mehr. Er hat seine Baseballmütze, seine Computerspiele. Die Vergangenheit implodiert. Ich war privat oft hier, es war sehr wichtig für mich, und ich habe hier enorm viel erlebt. Man kann das in all seiner Konfrontation mit Entwicklungsländern vergleichen. Hier war Stillstand. Es war wie ein regungsloser See. Schwarz und tief. Aber eben immer noch Wasser - und das hat alle Bestandteile vom Leben. Doch es strömte nicht. Und was nicht strömen kann, stirbt.

Und wie ist es jetzt?
Jetzt ist es ein Fluß, der wie wahnsinnig strömt. Aber ich glaube nicht, daß man diesen Fluß noch kontrollieren kann. Er besteht zu 50 Prozent aus Bürgern, der Rest ist Mafia. Politische oder kriminelle oder was immer. Man weiß nicht mehr, wer was bedient, wer auf welchen Knopf drückt. Das, was wir nicht wissen, bedroht uns gigantisch.

Wie holen Sie sich heraus aus der Dunkelheit, konfrontiert mit Aids und Tod?
Es ist wichtig, sich zu erinnern, daß es lohnt. Ich meine das Staunen. Die Kunst zu bewundern. Gestern zum Beispiel laufe ich zu Hause mit meinem Hund übers Feld und finde Mais. Das gibt’s nicht, denke ich, das ist ein Traum. Diese Farbe. Die schützende Hülle. Alle Körner in einem Nest. Das beschützt sich, ohne zu attackieren. Wissen Sie, das Angebot Leben ist genial. Es ist ein Geschenk. Es ist fast unstoppbar. Nimm die junge Katze, nimm die Blumen, die immer wiederkommen. Aber wie viele Menschen haben die Chance, das zu sehen? Viele nehmen auch nur noch Details wahr und finden das Ganze nicht mehr. Ich weiß es auch nicht.

Im nächsten März werden Sie 50. Haben Sie ein Problem damit?
Aber ja. Es ist schwer beschreibbar. Ich suche mein Alter. Ich fühle mich nicht wie 50. Aber ich bin’s. Das weiß ich. Und alles, was ich weiß, ist ein Problem. Wie heute, als ich diese Familie im Konzert sah. Vater, Mutter, Kind. Mutter wollte ins Konzert, Vater mußte mit. Ich habe so genau gespürt, was in ihnen vorging, daß es fast wehtat. Da fühle ich mich einfach zu alt. Außerdem merke ich, daß man mehr tun muß für das, was man tut. Ich muß mich körperlich mehr präparieren, mit dreißig machte ich mir darüber noch keine Gedanken. Heute muß ich sorgen, daß der Kopf frei ist. Bevor ich auf die Bühne gehe, muß ich alles neutralisieren. Damit es möglich wird, daß etwas völlig Unwichtiges wichtig wird: nämlich eine Melodie.

Das gelingt Ihnen scheinbar mühelos...
Es ist ein Gluck daß ich das kann und darf. Er hat mit einer Art Religion zu tun. Und ohne Respekt geht es nicht. Respekt von den Leuten die gekommen sind. Respekt vor dem Flaus, Respekt vor dem Leben, vor der Rose, die die ganze Zeit auf der Bühne steht. Die schneide ich später durch. Und es tut weh. Die Leute haben noch einen Tag vorher im Fernsehen wer weiß wie viele Tote gesehen. Und jetzt, bei der Rose, da fühlen sie was. Oder nimm das Lied von Friedrich Hollaender übers Flatterland. Jeder weiß, daß ich die Zeit vor der Geburt meine. „Man hat uns nicht gefragt, ob wir leben wollen.“ Kein Mensch hat mich gefragt, ob es mich geben soll. Kinder können leider nicht die Eltern wählen.

Sie haben vier Kinder...
Einer meiner Söhne ist 16, er hat unheimlich viel Wissen. Ich habe gestern lange mit ihm geredet. Alles, was er weiß, kann übermorgen schon ganz anders sein. Es gibt die Schulsprache und unsere Sprache. Die Wahrheit liegt wohl in der Kombination der Dinge. Merlijn, mein Sohn, ist übrigens ein Typ, der strahlt so etwas aus. Er wird nicht auf Jobsuche gehen müssen, die Jobs werden zu ihm kommen.

Das kann leider nicht jeder von sich sagen. Es ist so ein Dinq mit der Selbstverwirklichung
Arbeitslosigkeit ist nichts Neues. Man sollte die Arbeit fragen, wie man sie verteilen kann. Man fragt nie einen Baum, was er fühlt, ehe man ihn umhaut. Das, was die Leute gut können, muß man sie tun lassen. Stühle grün färben. Oder so. Du weißt, was ich meine? Es ist leichter, dir nicht zu vertrauen als dir zu vertrauen. Aber wir machen immer wieder die gleichen Fehler. Viele versuchen, sich anzupassen an das, was verlangt wird, wollen das Image von sich selber sein. Statt daß sie den Mut haben, sich so zu zeigen, wie sie sind. Die Wahrheit zu sagen. Jch zum Beispiel hab’ Schiß im Dunkeln.
Was mich nachdenklich macht: Meine Mutter ist, weil sie älter wird, öfter und öfter im Krankenhaus. Was die Mädchen und Jungen dort leisten in der Betreuung der älteren Leute, mit wieviel Flingabe sie es machen, da bleibt mir der Mund offen. Und die Gesellschaft bezahlt das miserabel. Man merkt oft erst später, daß man sich anders hätte politisch engagieren müssen.

Stichwort Engagement . Eine Menge des Geldes, das sie verdienen, stecken sie in HilfsprojeKte, etwa in „Kolumbine“.
Kolumbine ist eine Stiftung für Mutter und Kind, die sich besonders in Entwicklungsländern engagiert. Was wir anders als andere machen, ist, daß wir nicht sagen, wozu sie das Geld nehmen müssen. Wenn wir einem Dorf weiß ich wo Geld geben, dann: „It’s up to you.“ Ohne Reglement.

Der schon erwähnte Respekt vor der Kultur...
Als Nelson Mandela unlängst in Holland war, wurde ich gebeten, aufzutreten. Ich hatte mich in all den Jahren sehr um seine Freilassung bemüht und überlegte: Was kann ich jetzt für ihn tun, so daß er mich versteht? Ein Lied singen, Pingpong spielen oder was? Ich habe für ihn getrommelt, und er hat anschließend sehr bewegt gesagt: „Sie waren der erste weiße Mann, der für mich getrommelt hat.“ Aber in der Zeitung haben sie es lächerlich gefunden. So kriegt man einen Kuß und gleichzeitig ein Messer in den Rücken.

Welches aktuelle Projekt läuft denn bei Kolumbine?
Seit September bauen wir für einige Millionen ein Haus in Holland. Für Kinder, die in Not sind, denen es mies geht. Zum Beispiel gibt es hier auch Betreuung für nierenkranke Kinder, die dialysiert werden müssen. In diesem Haus wird man auf die Reise gehen können durch die Welt, von China nach Indonesien. Es gibt viele unterschiedliche Zimmer, entsprechend den Ländern, wo unsere Projekte laufen. Es gibt auch ein deutsches Appartement, das einzige europäische Appartement -übrigens. Man kann diese Zimmer mieten. Das Haus entsteht in Biddingshouzen.

Was lesen Sie da?
Fußballergebnisse von heute abend, fünf Seiten. Ich liebe Fußball. Ich habe in Holland einen Sekretär, der mich auf dem laufenden hält, auch während der Konzerte. Das ist das Fax von den Länderspielen. Alle Minuten. Hier steht auch, wie Deutschland gespielt hat.

Haben Sie, die Deutschen betreffend, besondere Befindlichkeiten?
Es ist ein Mißverständnis, von den Deutschen zu reden. Die Unterschiede sind gigantisch. Wenn du z. B. in Süddeutschland zwischen Bergen geboren bist, bist du anders, auch charakterlich, als wenn du am Meer geboren ist. Am Meer hast du Sicht. In den Bergen hast du andere Qualitäten, kannst du mit Stille umgehen, mit Phantasie und Gott weiß was. Farben sind in München anders als in Hamburg. Ich denke übrigens oft an ein Konzert in Weimar, das zu den besten meines Lebens gehörte. Draußen vor dem Theater hatte sich die halbe DDR versammelt, wir machten die Fenster auf, damit alle was hören konnten. Dieses Land ist wichtig für mich, weiß Gott warum.

Ihre Erfindung, die Zeichentrick-Ente Alfred Judo-kus, ist auch bei uns in vielen Kinderzimmern präsent. Arbeiten Sie an neuen Projekten für Kinder?
Es ist schwer, professionell und gleichzeitig gut für Kinder zu arbeiten. Ich habe neue Ideen. Aber solange Alfred so Furore macht, ist es nicht leicht, dafür Interessenten zu finden. Wir haben gerade wieder eine Alfred-Staffel abgedreht.

Sind Sie eigentlich hin und wieder zu Hause?
Öfter, als mancher denkt. In der Regel vier Tage weg, drei Tage da. Es ist anstrengend, aber schön. Das liegt an der Lust auf Leben und Leute.

Was wünschen Sie sich persönlich? Wie im Lied - etwas Glücklichsein. Ich wünsche mir, daß ich werden kann, was ich denk, das ich bin. Ab und zu habe ich diesen Zustand schon.


Das Gespräch führte Birgit KUMMER



Birgit KUMMER