Leipziger Volkszeitung
Gisela Hoyer

„Wir sind taub und blind“

9.marz 1994

Er dirigiert den Beifall, läßt ihn abebben und anschwellen, verstummen, aufbrausen. Das Gesicht über den beweglichen Händen zeigt ungeschminkt Spott. Hohn nicht, denn Herman van Veen ist alles mögliche, doch kein Zyniker: Er liebt die Menschen und vor allem die Kinder. Sie sind noch nicht schuldig geworden - schuldig an Machtmißbrauch, Hunger und Elend, der längst unvermeidbaren ökologischen Katastrophe und der kollektiven Verharmlosung der Probleme dieser Erde. „Wir sind taub und blind und denken, die wahre Zivilisation sind Kaugummis und Hamburger. Ein großes Mißverständnis“, sagt der Mann, den die Leute in Ostdeutschland anscheinend besser kennen als ihre Westschwestern und -brüder und den sie unvermindert lieben. Die Leipziger Oper war lange nicht so gut gefüllt, lange nicht so einmütig gestimmt in froher Albernheit und purem Ernst.


Sogar Kritiker preisen ihn sanften Blicks und durch sehr freundliche Anmerkungen, den multitalentierten Clown mit der verletzlichen Seele und der eindeutigen Botschaft eines pazifistischen Poeten. Nur wenige Leute sind entschlossen, den konsequenten Jammerlappen samt appellarischtraurigen Haderns mit der Welt langweilig zu finden. Eine Mehrheit eilt herbei und verteidigt ihn, sogar gegen die eigene Erwartung. Die will van Veen, wie er immer war, als den zärtlichen Zauberer mit den klaren Augen, gefühlsbetont, politisch.

Er hält dagegen, präsentiert sich als Faxenmacher, der mit der schlichten Begeisterung des Publikums sein Spiel treibt. Grobheit und Unsinn als Mittel gegen die Gewohnheit? Klamauk als Provokation? Herman meditiert aus einleuchtenden Gründen über Haarwuchsmittel, er tänzelt durch die Scheinwerferkegel, dreht eine Pirouette, kriecht als Hund über die Bühne, imitiert Tennis-Crack B. B., läßt die Hosen Bei unter und klärt auf: „Mein Ziel ist nicht, die Welt zu verändern. Ich bin kein Prophet, kein Politiker, nicht mal ein Moralist. Ich spiele Theater.“ Also doch: Irritation als Programm... Dem Traum vom Babyregen folgt die Überlegung, daß man irgendwann (bald) keine Straße überqueren können wird, ohne auf Babies zu treten.

Er steht seit einem Vierteljahrhundert auf der Bühne, ist Komponist, Texter, Sänger, Pantomime, Geiger, Mime und Filmemacher, hat Bücher geschrieben, so gegen 60 LPs und 50 CDs produziert, den Jodocus Kwak erfunden und ist auf Theaterbrettern zwischen Amsterdam und New York zu Hause. Aber vor allem ist van Veen leidenschaftlicher Perfektionist, selbst die Improvisation findet wohlkalkuliert statt. Sein Rollenwechsel läßt Atempausen nicht zu, und seine Figuren stellen einen Kosmos dar.

Er telefoniert natürlich auch aus Leipzig mit Mutter, und Sohn, definiert die Stadt als „schon last Polen“ und merkt an, "wieviel hier gebaut werde und daß früher der Beifall länger anhielt. Er weiht in die Gewissensqualen ‘des ewigen Frauenfreundes Don Giovanni/van Veen ein, singt seine Liebeserklärun an „Anne“ und „Guigui“ und verwandelt sich bruchlos in den eitle Maestro am Flügel, den er mit jede Geste als Karikatur deklariert. Ar strengendes Kontrastprogramm. i dem Sinatras _My way* eine böse Pat odie ist.

Nach der Pauae, Iriaca „sehr schön“, ist der Mann wiederei kennbar Herman van Veen, der bittere Utopist mit dem unbestechliche Blick auf die alltäglichen Fronten, a denen ganz unspektakulär Blut fließ das von den Armen und Schwachen in der Regel, die oft Ausländer oder Heranwachsende sind. Von schreckenbe schwörender Komik sind seine Visionen, wenn zum Beispiel „Hitler seine Kampf gewonnen hätte, wenn's anders ausgegangen wär...“.

Er hat viele Ängste. Die Angst, sich zu bekennen, sich preiszugeben, is nicht darunter. Daraus vermutlich bezieht er seine Stärke, der zierlich Herr in elegantem Schwarz, der sich im Schein des blassen Bühnenmonde sein Ableben vorstellt als „junger kräftigen Tod, keinen Sünden-vergebenden“ und der von seinem berühm ten zärtlichen Gefühl singt, das der gilt, „der seinen Mund auftut, sich zi träumen traut, jedem, wenn er wehrlos lieben kann“. Niemand flüstert wie er, sanft und aufschreckend in einer Moment.

Der Beifall am Ende wollte lang kein Ende nehmen. Ganz undirigiert.



Gisela Hoyer V