Herman van Veen
SH am Sonntag
Alles klar
16 aug 2009

"Das ist der Teutoburger Wald,
den Tacitus beschrieben,
das ist der klassische Morast,
wo Varus steckengeblieben."
Heinrich Heine

Am Fuße des Berges vomTeutoburgerWald, was einst der Freistaat Lippe war, liegt Detmold. Kronjuwel aus der Biedermeierzeit und von zwei Weltkriegen verschontes Städtchen.
An der Ecke der Krumme Straße wohne ich in einem Detmolder Hof, einem Fachwerkbau aus der Renaissance.

Liege in einem Himmelbett und lausche dem Erwachen der alten Stadt.
Eine Frau geht auf hohen Absätzen energisch über die alten Steine der Straße. Ihre Schritte hallen. Wohin geht sie? Woher kommt sie? Kriegt sie Küsse? Warum die Eile?

Eine Autotür schlägt zu. Ein paarTauben gurren. Ein Mann, der mit sich selbst redet. Verstehe nur: „Alles klar, alles klar." Er lacht.
Vernehme die Kehrmaschine. Sie reinigt lautstark die Pflastersteine. Die Müllabfuhr.
Stille.
Höre meinen Magen knurren. Schaue auf meine Armbanduhr. Hab noch eine Stunde, bevor der Wecker geht.

Jemand ist mit Leitern beschäftigt. Die Tauben sitzen nun bei mir auf dem Fensterbrett. Worüber gurren sie?

Denke an früher, als ich noch bei meinen Eltern zuhause war. Ich schlief damals auf dem Dachboden und konnte von meinem Bett aus, aus dem Zimmerchen, das neben dem meinem lag, dieTauben vom Nachbarn hören. Er hatte gut 70 Stück. Wir nannten ihn den Taubenmelker. Er machte mit bei dem traditionellen Taubenflugwettbewerb.

DieTauben in seinemTaubenverschlag waren teuer. EineTaube, so grau wie Schiefer, kostete gut 120 Gulden. So kostbar wie ein Fahrrad.

Wie weit man sie auch wegbringt, eineTaube findet allzeit ihren Weg wieder nach Hause. Es ist ein Wunder. Was weiß sie von Magnetfeldern? Was von Nord und Süd? Wie weit kann sie sehen?

Ging, als ich klein war, mit den Tauben ins Bett und stand mit ihrem Gurren auf. Höre ich sie, dann kehrt immer etwas Ruhe in mir ein.

In meinem Himmelbett genieße ich das Gurren. Ein Knall. Noch ein Knall.Terroristen? Ein Überfall? Nein, jemand schmeißt Punkt 7 Uhr eine Dachschindel von 10 Metern Höhe in einen leeren Container. Und noch eine und noch eine. Es regnet Krach. Das Dach eines Hauses von einem mindestens genauso schönen Hof wie der, in dem ich logiere, wird neu gedeckt. Die Straße ist mit einem Schlag wach.

Das Telefon. "Guten Morgen, Herr van Veen. Sie wollten geweckt werden. Es ist jetzt 7 Uhr."

"Dankeschön."

Stehe auf und ziehe die Gardinen auf. Vergesse, dass ich ganz bloß bin. Schaue in die alte Straße. Stelle mir vor, dass die Menschen, die da laufen, die von früher sind. Pauline zur Lippe. Eine deutsche Florence Nightingale. Johannes Brahms auf dem Weg in eine königliche Schule, um Kinder Musik zu lehren. Der Dichter Ferdinand Freiligrath mit einigen Reimen in seinem Kopf. Der Rabbiner auf dem Weg in seine alte Synagoge an der Lortzingstraße.

Sehe auch den, nach dem ich benannt wurde. Hermann den Cherusker mit erhobenem Schwert auf dem Weg, um mit einer List die Römer zu besiegen. Der Befreier von Germanien.

„Kaffee?" fragt das Fräulein mit dem weißen Schürzchen. „Nein, schenken Sie mir nur einen doppelten Detmolder Bierbrannt ein."



Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.