Andreas Herrmann schreef 24 oktober in de Dresder Neueste Nachrichten


Ein großer sanfter harter Clown




DRESDEN

Fressen zwei Kannibalen einen Clown: "Schmeckt komisch", meint der eine. Solche Kamellen dürfen sich nur wenige Künstler leisten, ohne verrissen zu werden. Herman van Veen darf. Zwischen Chemnitz und Gera krönte er seinen zehntägigen Ostausflug mit einem doppelten "Hut ab!" im fast ausverkauften Dresdner Kulturpalast und schuf dem Publikum einen Kulturhöhepunkt ohnegleichen. Dabei ist der gemeine Herman-Fan von bisherigen, schwer überbietbaren Höhepunkten in 25 Jahren diesseitiger Tourneegeschichte absolut verwöhnt und giert Halbjahre im voraus nach den Tickets. Aber 40 Prozent seiner Zuschauer seit 1968 seien inzwischen verstorben, geißelt sich der Holländer selbstironisch, um immer wieder, seicht-eitel, auf sein eigenes Alter zurückzukommen: Im Frühjahr feierte er seinen 60.

Das frische Album zur Tour namens "Hut ab!" trägt in der Discographie die Nummer 137, ist aber damit schon nicht mehr das jüngste. Zumal van Veen in vier Sprachen darbietet und in bisher sieben veröffentlicht. Sein eigenes Kunstimperium, seit 1979 aufbauend auf dem Kwak-Kidkult, steht immer im Licht des guten Zwecks des Kampfes für Kinderrechte. Und van Veen braucht die Rampe, gediegene Musiker und schicke Musikerinnen, sein Tourneeplan spricht ebenso Bände wie seine Ehrenpreisliste, auch über seine Häuslichkeit. Ebenso wie eigene Texte. Auf den Brettern dieser Welt ist er der Meister: Chanson, Spiel, Folklore, Geige, Klavier, Witz, Ironie - seine Präsenz erschüttert und erheitert jeden Saal.

Dabei bleibt geschickt verborgen, wie viel Improvisation dahinter steckt. Und wohl keiner geht so geschickt mit Lautstärke, Ruhe und Pausen um. Mit Erik van der Wurff, seit vier Jahrzehnten sein Begleiter an den Tasten, aber diesmal nicht an der Scheibe beteiligt, und Koproduzentin Edith Leerkes an Gitarre und Celesta, steht das musikalische Grundgerüst. Dank Oleg Fateev (Akkordeon), Wibke Garcia (diverse Rhythmusgeräte) und Jannemien Cnossen (Geige), wobei die drei Damen mitsingen, beginnt eine Rundreise durch abendländische Folklore, die auch ohne Botschaft wirkt. Doch gerade Lied- und Zwischentexte sind van Veens Zauberstab. Fünf liefert er fürs neue Album eigenhändig, die ihm in bewährter Art Thomas Woitkewitsch ins Deutsche überträgt, der vermeintliche Titelsong "Alles unter einem Hut" - im Konzert letzter Akt der "offiziellen" Zugaben, stammt von Freund Heinz-Rudolf Kunze.

Garniert mit wenig altem, aber doch einer subtilen Selbstbezüglichkeit für die Abonnenten im Saal, zeigt der selbsternannte Clown, mit welchen raren Mitteln große Wirkung erzielt werden kann. So beim ersten Versuch von "Zärtliches Gefühl" in Rammsteinmanier auf dem Boden wälzend. Statt Licht- und Feuershow berieselt van Veen die Bühne systematisch mit Pingpong-Bällen. Kein Problem dieser Welt scheint ihm zu groß für seine Kunst. Er spielt aber weder Hofnarr noch Agitator, obwohl er angesichts der ausufernden Problemschwemme über die Jahre zunehmend rauer und direkter wird. Nach über zwei Stunden enden die ersten beiden Halbzeiten, die dritte mit Zugaben lässt wie gewohnt nicht lange auf sich warten und wird beschlossen, indem der Maestro quer durch den Saal ins Foyer flüchtet. Doch die wahren Fans wissen es längst: Herman van Veen singt, notfalls auch nackt ins Handtuch verpackt, noch mal weiter. Auch diesmal lässt er sich nochmal herbeiklatschen: Stehende Ovationen eines Drittels der Saalfüllung nach reichlich drei Stunden ehrlicher Unterhaltung.

Ein Jahr, 74 Stationen und einhundert Auftritte dauert die Tournee, die Oper Leipzig (2. bis 4. Februar) und wiederum der Kulturpalast (29. März) ergäben die nächsten Berührungspunkte.


Andreas Herrmann