STEFFEN RADLMAIER schreef 24 april 2006 in de Nurnberger Nachrichten
Griff in die Wundertüte
Herman van Veen in der Nürnberger Meistersingerhalle
"Seit 1968 sind vierzig Prozent unserer Zuschauer gestorben." Mit dieser verblüffenden Warnung begrüßt Herman van Veen sein
Nürnberger Publikum und schiebt nach: "Sie haben Glück gehabt." Scherze mit tieferer Bedeutung sind die Spezialität des
holländischen Ausnahmekünstlers, der seit vierzig Jahren auf der Bühne steht und von einer treuen Fangemeinde verehrt wird.
Melancholischer und nachdenklicher als früher ist das aktuelle Programm, Kindheitserinnerungen, aber auch Alter, Abschied
und Tod sind die beherrschenden Themen. Mit 61 muss man unbequemen Tatsachen ins Gesicht sehen.
"Ein Mensch hat in seinem Leben keine Zeit, um für alles Zeit zu haben", heißt es in einem neuen Lied von Herman van Veen.
Es sei denn, man macht es wie er und alles auf einmal. Wie viele Persönlichkeiten kriegt man unter einen Hut? Wer oder was
ist dieser Mann? Ein Weiser oder ein Narr, Märchenonkel, Kinderfreund, Sänger, Schauspieler, Musiker, Magier, Entwicklungshelfer,
Poet, Philosoph, Traumtänzer, Friedensapostel, Weltverbesserer, Gesellschaftskritiker, Anarchist, Menschenfänger, Lebens-
und Liebesberater, Menschen-rechtsaktivist, Clown, Seher, Seelentröster oder nicht ganz bei Trost? Ich ist ein anderer - und
dieser Mann einfach nicht zu fassen.
"Hut ab!" heißt das aktuelle Programm, ein wunderbares Gesamtkunstwerk mit theatralischen, kabarettistischen, poetischen und
vor allem musikalischen Elementen. In den letzten Jahren hat Herman van
Veen den Klang von Geigen und Gitarren für sich (wieder)entdeckt. Zwar ist der Pianist Erik van der Wurff seit 43 Jahren sein
Bühnenpartner, aber der Einfluss der Gitarrenvirtuosin Edith Leerkes ist nicht zu überhören. Dazu kommt die Violinistin Jannemien
Chossen und der Cellist Karel Breden-horst. Zu hören ist eine exzellente Mixtur aus Chanson, Klezmer- und Kammermusik. Aber
Herman van Veen spielt zwischendurch auch mal den Avantgarde-Pianisten oder einen Hard-Rock-Gitarristen.
Der Entertainer legt den Finger auf die Wunden und die Wunder dieser Welt. Ein Rufer in der Wüste, der sich einen kindlichen
Blick bewahrt hat und immer noch staunen kann. Fragen sind ihm wichtiger als Antworten, der Weg ist das Ziel. Unwahrscheinlich,
dass ein Lied die Welt verändert, aber man kann's ja mal versuchen. Vielleicht ist Sisyphos ein Holländer mit Glatze und wälzt
keine Steine mehr, sondern lässt stattdessen Tischtennisbälle tanzen. Vielleicht muss man sich Herman (und seine Fans) als
glückliche Menschen vorstellen. Jedenfalls im Konzertsaal, wenn das verzauberte Publikum sich mit Standing Ovation bedankt wie
in Nürnberg (und tags zuvor in Bamberg). Dann gibt es Zugaben ohne Ende, von "Ich lieb dich noch" bis "Anne". Hut ab, Herman!
STEFFEN RADLMAIER