Herman van Veen
SH am Sonntag
Schrei des Herzens
(Cri du coeur)
2 okt 2011

J'aime pas l'malheur,
j'aime pas l'malheur
et le malheur
me le rend bien...

Meine Mutter machte den Staubsauger aus, lief zum großen Radio mit der Glasplatte, auf der alle Hauptstädte der Welt standen. Sie drehte das Radio lauter auf, legte ihre Finger an die Lippen. „Psst! Klappe halten!

Meine Mutter liebte Edith Piaf. Kein Sänger, keine Sängerin verstand es, sie so zu berühren wie dieses französische Zwergenfrauchen. Kam sie im Radio, dann mussten wirstill sein. Dann setzte sie sich hin, faltete ihre Hände im Schoß, schaute nirgendwohin und es konnte passieren, dass eine Träne über ihre Wange rollte.

„Verstehst du, was sie singt?", habe ich sie einmal gefragt.
„Nein", hatte meine Mama geantwortet.
„Aber warum weinst du dann?"
„Das hat mit meiner Mutter zu tun."

Die Mutter meiner Mutter ist sehr jung gestorben und das kannte diese Edith Piaf alles. Und sie wusste, wie es ist, einsam durch die Straßen zu irren, Mutter mit Siebzehn zu sein, sie wusste auch von Zuhältern und Huren, von Liebhabern, die einfach verschwinden, von betrunkenen Männern, die dich schlagen und vom einfachen Dienstbotendasein bei Seiner Majestät.

Mit der Hymne Non, je ne regrette rien, mit der Edith Piaf eine Bilanz ihres Lebens zog und mit What a wonderfui world von Louis Armstrong nahm meine Mutter Abschied. Und hinter ihrem Sarg über den Bäumen im Garten erschien ein doppelter Regenbogen.



Herman van Veen (66) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.