Susanne Storck schieb am 10. Juni 2005 in der Neuen Ruhr Zeitung
Traumhafte Begegnung
"Windekind - ein Märchen" von und mit Herman van Veen möchte man immer wieder erzählt bekommen.
Wie kann man einem Menschen begegnen, der gestorben ist, bevor sein Leben richtig begonnen hat? Den man so gerne kennen gelernt hätte, weil seine Verse etwas in einem zum Klingen gebracht haben. Das muss doch möglich sein?! Herman van Veen hatte eine Idee, wie es funktionieren könnte. Eine umwerfend gute Idee - wovon sich das Publikum Donnerstagabend in der Alten Synagoge überzeugen konnte bei der ausverkauften Premiere von "Windekind - ein Märchen".
"Irgendwie ist sie noch da"
Der Liedermacher hat es Selma Meerbaum-Eisinger gewidmet, einer Jüdin, die mit ihrer Familie 1942 in das Arbeitslager Michailowka in der Ukraine deportiert wurde. Hier starb die 18-Jährige im selben Jahr an Flecktyphus. Geblieben sind die Gedichte, die sie für ihren Freund schrieb. Erst Jahrzehnte später wird Selmas Lyrik durch die Veröffentlichung wirklich entdeckt.
Ein Freund gibt Herman van Veen das Buch, der es nach dem Lesen nicht einfach weglegen kann. "Ihre Texte trage ich in meinem Herzen", sagt er in der Alten Synagoge, "denn irgendwie ist sie noch da". Da er ihr aber "nicht unerwartet begegnen kann", trifft er sie - simsalabim - im Traum. Und zwar in einer Dienstagnacht in New York. Selma ist 60 - wie Herman van Veen. Die beiden wollen sich am Broadway ein Märchen ansehen, aber, "wie dumm", er hat vergessen, die Geschichte zu schreiben. Das sieht Selma nicht eng. "Schreib, was nie geschehen ist, was hätte geschehen müssen", wünscht sie sich - und gibt ihm ihren Bleistift, der sprechen kann.
Es war einmal... Windekind, eine Schäfchenwolke. Sie ist vertraut mit dem Meer, das nicht lügen kann, sucht ein Geburtstagsgeschenk für die Sonne aus, kennt Katz´ und Möwe und verkriecht sich nicht vor der dunklen, bedrohlichen Gefahr am Himmel. Das zarte Wolken-Wunderkind schafft´s, dass sich die Hasenfüße ringsherum wehren und am Ende ein Regenguss das Feuer im Tal löscht... was zu Selmas Zeiten "hätte geschehen müssen".
So oder anders kann man sich über Windekind Gedanken machen. Das ist ja das Schöne bei Herman van Veen: Dass er die Phantasie nicht festnagelt, was die sich ja sowieso nicht gefallen ließe.
Herman van Veen in der Alten Synagoge, mit diesem Stück für die Jüdin Selma Meerbaum Eisinger: "Es ist spannend, hier zu singen, verstehen Sie. Ich brauch´ das nicht zu erklären", sagt er. Und seine schöne, volle, warme, tiefe Stimme klingt in dem Haus mit wunderbarer Akustik noch schöner, voller, wärmer, tiefer als sonst.
"Das ist das Schwerste: sich verschenken und wissen, dass man überflüssig ist..." Selma und ihre zutiefst anrührenden Verse sind ganz nah. Durch van Veen und durch die begnadete Gitarristin Edith Leerkes, die schon oft zusammengearbeitet haben. Sie gibt Windekind/Selma mit Musik Gestalt, mal traurig, mal nur mit einem Hauch von Tönen, mal aufmüpfig, kraftvoll. Und wenn sich beide mit Geige und Gitarre unterhalten, will man nur, dass das nicht aufhört.
Ins Programm gemogelt...
Auch sehr schön sind die Begegnungen mit der Tänzerin Lina Lundheimer, die sich hin und wieder ins Programm mogelt. Das ist mitunter komisch, wie überhaupt das Stück dank heiterer und ulkiger Momente nicht in Traurigkeit versinkt.
Das Publikum will´s nicht wahrhaben, dass das Märchen mit Musik nach gut 90 Minuten schon zu Ende erzählt ist. Als Trostpflaster gibt´s van Veen-Hymnen: "Ich lieb´ dich noch" und "Ich hab ein zärtliches Gefühl". Echt große Trostpflaster.
"Windekind" ist zu sehen heute, Samstag, und Sonntag, 12. Juni, 20 Uhr, im RWE-Pavillon der Philharmonie. Karten (34/22 Euro zzgl. Vorverkaufsgebühr): Tel: 81 22-200