OLIVER LÜCK UND RAINER SCHÄFER schreven in het maart nummer van RUND (das Fussballmagazin)


"Ich bin ein Freak"




DER HOLLÄNDER HERMAN VAN VEEN IST BEKANNT FÜR GEFÜHLIGE LIEDER UND SEINE COMIC-ENTE ALFRED JODOCUS KWAK. KAUM JEMAND WEISS ABER, DASS DER 60-JÄHRIGE EIN FANATISCHER FUSSBALLFAN IST. ER FÜHRT EINEN EINSAMEN KAMPF FÜR MILAN-STAR CLARENCE SEEDORF, SCHREIBT E-MAILS AN DIE NIEDERLÄNDISCHE NATIONALELF UND WEISS, WER IM SOMMER VERHINDERN KÖNNTE, DASS HOLLAND ZUM ERSTEN MAL WELTMEISTER WIRD




Herr van Veen haben Sie sich schon mal vorbestellt, was ein Ball so denkt?
Natürlich, sehr oft. "Schieß los" zum Beispiel, das denkt er sicher ständig.

Er wird immer getreten.
Das tut natürlich weh. Denn der Ball hat bestimmt auch Gefühle. Er wird ja aber nicht nur getreten, er wird ja auch geküsst, umarmt, vergessen, verkauft oder ins Publikum geschossen. Ich frage mich, wer da mit wem spielt. Die Spieler mit dem Ball oder der Ball mit den Spielern.

Spielen Sie auch?
Ich habe immer, mein ganzes Leben lang, Fußball gespielt, ich war aber immer nur mit einem sanften Ball gut. Wenn der Ball knallhart aufgepumpt war, dann hörte meine Technik auf. Er flog in alle Richtungen, aber nicht dorthin, wo ich ihn haben wollte. Ich habe dann vor den Spielen einfach etwas Luft rausgelassen. Ich wollte aber nie Fußballer werden, ich wollte immer Clown sein.

In welcher Liga haben Sie gespielt?
Mein letzter Verein war in Haastrecht, in dem Dorf, wo ich auch gewohnt habe. Siebte Liga. Ich hätte es mir auch gar nicht leisten können, dort nicht Fußball zu spielen, weil alle gespielt haben. Ich war Rechtsaußen oder rechter Verteidiger, aber immer schnell über die Flügel. Und man musste mich dreimal ausspielen, damit man mich los war. Auf dem Platz war ich ein Krokodil. Erst vor fünf Jahren habe ich mit dem Fußballspielen aufgehört.

Warum?
Weil es todgefährlich für andere war mit so alten Leuten wie mir zu spielen, da ich nicht mehr bremsen konnte. Es hatte aber eher einen sehr traurigen Hintergrund. Einer unserer Mitspieler beging Selbstmord. Niemand hatte etwas geahnt, obwohl wir 16 Jahre gemeinsam gespielt hatten. Danach ging die Mannschaft auseinander.

Und heute sind Sie Fan.
Ich bin ein fanatischer Fußballliebhaber. Ich gehe ins Stadion zum FC Utrecht und zu Feyenoord Rotterdam, das sind meine Klubs, kkomme aus einem sozialistischen Milieu, und das sind echte Volksklubs, vergleichbar mit Schalke 04. Ich habe eine Nähe zu Fans, dene es persönlich schlecht geht, wenn ihr Verein verliert. Fußball ist für diese Menschen keine Nebensache, sondern eine Lebensart. Ich sehe mir möglichst viele Spiele beider Teams an, reise hinterher, auch zu Europapokalspielen. Schon früher war ich mit meinem Vater immer im Stadion - da fällt mir eine interessante Geschichte ein.

Bitte erzählen Sie.
"Kennen Sie noch Dirk Lammers? Er spielte in den 5o'er und 6o'er Jahren in Utrecht. Man. konnte an seiner Haarpracht erkennen, was er an diesem Tag vorhatte. Wenn sein Haar stark nach hinten gekämmt war und er viel Brillantine benutzt hatte, dann war er so was von scharf, dann hatte kein Gegner eine Chance. Aber wenn sein Haar trocken war, dann sagte mein Vater immer: "Das wird heute nichts mit Lammers."
Bei Frans de Munck, dem schwarzen Panther und besten holländischen Torwart aller Zeiten, war das genauso. Wenn sein Haar saß, dann war das für die Stürmer immer lebensgefährlich. Dann wusste man schon vorher, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, überhaupt aufs Tor zu schießen. So eine Ausstrahlung hatte der dann. Und bei den Zwillingsbrüdern Frank und Ronald de Boer konnte man auch an den Haaren sehen, ob das an dem Tag was wird oder nicht. Ich glaube, dass es bei manchem Spieler noch heute so ist.

Ganz sicher, ober wir wollen noch über etwas anderes als Haare reden. Wie können Sie denn Fan von zwei Vereinen sein?
"Das geht zweimal im Jahr natürlich nicht, wenn Utrecht und Feynoord gegeneinander spielen. Dann habe ich ein großes Problem.

Und wie sind Sie so im Stadion?
Ich bin ein Freak. Ich schreie, schimpfe, juble nicht und springe auch nicht herum. Ich sitze ruhig da und kalkuliere. Was mich an diesem Sport fasziniert, ist die Aktion da, wo man nicht hinguckt. Dort, wo der Ball hingehen sollte und nicht da, wo er ist. Ich finde es wahnsinnig interessant, wenn man nicht da arbeitet, wo man arbeiten müsste. Wenn meine Augen Pässe geben könnten, dann gäbe es ein Tor nach dem anderen. Das ist die Sehnsucht nach einem schönen Spiel in mir.

Wie weit fuhrt Sie Ihre Sehnsucht?
Fußball verfolgt mich überall hin, er ist für mich nicht wegzudenken aus meiner Realität. Auch in meinen Konzerten muss Fußball immer eine Rolle spielen. Ich spreche dann auch nie von "Pause", sondern von "Halbzeit". Es gibt so viele Gemeinsamkeiten mit meinem Beruf. Die Technik, das Abspiel, das Kombinieren, das Harmonieren, das hat unheimlich viel mit Fußball zu tun. Wenn meine Gitarristin nicht gut abspielt, warum soll ich dann singen? Während meiner Konzerte lasse ich mich auch per Handzeichen über Zwischenstände bei wichtigen Spielen informieren. Und wenn das Spiel vorbei ist, bekomme ich sofort ein Fax mit einem Bericht geschickt. Das ist fast wie eine Krankheit bei mir. Obwohl ich weiß, dass es um nichts geht. Ich schreibe auch regelmäßig Briefe und E-Mails an das Nationalteam, bedanke mich und gratuliere.

Kennen Sie Trainer oder Spieler persönlich?
Guus Hiddink, Dick Advocaat, Frank Rijkaard und Huub Stevens kenne ich sehr gut. Als Rinus Michels noch lebte, hatte ich einen guten Kontakt zu ihm. Ich kenne eigentlich all diese Leute, die kommen auch in meine Konzerte. Ich bin einmal mit der holländischen Mannschaft nach Amerika gereist und habe dort die Nationalhymne vor einem Länderspiel gegen Kanada gesungen. Als Frank Rijkaard dann später gefragt wurde, was einer der Höhepunkte in seiner Karriere gewesen war, sagte er: die Nationalhymne von Herman van Veen in Amerika. Da habe ich eine pure Gänsehaut gekriegt. Bin ich auch total stolz drauf. Denn Rijkaard ist ein absoluter Held von mir. Auch weil er ein schwarzer Holländer ist, die haben es nämlich 40-mal so schwer.

Welcher Spieler fasziniert Sie?
Seit Jahren führe ich einen Kampf für Clarence Seedorf. Als er noch in der Nationalmannschaft spielte, habe ich öfter E-Mails ins Mannschaftsquartier geschickt, mit ganz besonderen Grüßen und Glückwünschen für Seedorf. Ich verstehe einfach nicht, warum er in Holland nicht verstanden wird. Er ist ein phänomenaler Fußballer. Er geht den Weg nicht, wenn er weiß, dass er die Distanz nicht überbrücken kann. Aber für Laien muss er beweisen, dass er die Distanz nicht überbrücken kann. Er erkennt, dass der Ball zu weit weg für ihn ist und er ihn nicht kriegen kann, und geht keine sinnlosen Wege. Das wird ihm dann als Faulheit ausgelegt. Er versteht das Spiel, ist intelligent. Er ist eine Legende. Er wird aber nicht verstanden, auch von vielen Fachleuten nicht. Wenn er zum Beispiel von Journalisten eine sinnlose Frage gestellt bekommt, kann er sehr peinlich schweigen. Und dann guckt er nur mit diesem großen, dunklen Gesicht, um dem Journalisten zu erklären: Sie wissen nicht, was Sie fragen.

Seit der EM 2004 hat er kein Spiel mehr für Holland'gemacht. Muss Secdorf trotzdem mit zur WM fahren?
Es gibt zwei Spieler, die von ihren Fähigkeiten eigentlich in die Nationalmannschaft gehören: Seedorf und Robin van Persie. Marco van Basten wird aber nicht gut daran tun, einen dieser beiden Spieler mit zur WM zu nehmen. Seedorf versteht zu viel vom Fußball, er ist aber nicht in der Lage mit den anderen über seine Vorstellungen und Differenzen zu sprechen. Und van Persie, der ein genialer Fußballer ist, nimmt sich einfach sein Recht und tut Dinge, die sich kein Team leisten kann. Er "geht durch das Lind", wie wir Holländer sagen. Er weiß, dass er phänomenal brillant ist, macht aber Dinge, durch die wir in letzter Sekunde eine rote Karte kriegen. Das ist das Problem. Ich würde van Basten empfehlen, beide nicht mitzunehmen. Der eine ist zu intelligent, der andere eine Gefahr.

Aber kann Holland es sich überhaupt leisten, Seedorf nicht mit zu nehmen?
_Auf seiner Position haben wir zum Beispiel Wesley Sneijder, Rafael van der Vaart oder Edgar Davids. Das Potenzial ist so wahnsinnig groß. Wir sind reich.

Gefällt Ihnen, wie van Basten als Trainer arbeitet?
Ich bin sehr einverstanden. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Van Basten tut nichts, ohne vorher mit Johan Cruyff geplaudert zu haben, so auch beim Qualifikationsspiel gegen Finnland. Die Finnen sind alles sehr große Männer, also haben die beiden beschlossen, nur kleine Spieler spielen zu lassen. Das ist ein seriöser Witz! Und das machen die im Ernst! Da sind nur Jungs von 1,62 Meter aufgelaufen, Sneijder, van der Vaart und so weiter. Die riesigen Finnen standen da und konnten damit überhaupt nichts anfangen. Das ist so was von fantastisch! Aber so denken van Basten und Cruyff, immer von Spiel zu Spiel zu Spiel. Van Basten ist ein Pragmatiker, er macht eine gute Arbeit.

Was ist in Holland los, wenn es gegen Deutschland geht?
Das ist ein unvergleichliches Ereignis für uns Holländer. Dann sind die Straßen leer. Diese Spiele sind heilig. Ich fahre seit 40 Jahren durch Deutschland, ich kenne das Land wie mein eigenes. Das sind unsere Nachbarn, das andere Ich. Deutschland ist für Holland das Exportland. Holland ohne Deutschland - da könnten wir aufhören. Natürlich sind wir besser, wir sind viel besser - gemeinsam mit Brasilien und Argentinien spielen wir am schönsten auf der Welt, wir sind aber nicht gut darin zu gewinnen. Die Deutschen können gewinnen.

Glauben Sie, dass mancher Holländer die Deutschen um den Erfolg beneidet?
Oh nein. Wenn das Spiel vorüber ist, gehen wir an den Schnaps. Bei Schlusspfiff können wir das Ergebnis doch auch nicht mehr ändern. Das Spiel ist es, was uns Holländer fasziniert. Wir wollen nicht gewinnen, wenn das Spiel nicht schön ist. Die Deutschen haben ein bestimmtes System, weil sie damit gewinnen wollen. Das eine ist nicht besser als das andere, das eine ist aber funktionell und das andere nicht. Was finden Sie denn sympathischer: Gewinnen oder spielen wollen?

Die Schwalbe von Hölzenbein im WM-Finale 1974 war aber nicht so schlecht, oder?
Ich finde das nicht schön. Für die Fußballerei sind Schwalben keine gute Sache. Aber das hätte damals umgekehrt sicher genauso passieren können.

Würden Sie gerne die Nationalmannschaft trainieren? Für einen Tag?
Nein, so etwas geht nicht. Ich habe viel zu viel Respekt vor dem Fußball. Ich will nie mehr sein als Zuschauer. Auch jemand, der einfach so meine Geige anpackt, hat doch keine Ahnung, was er da tut. Meine Geige hat eine bestimmte Temperatur, die sich sofort verändern würde. Dann hätte ich ein Problem.

Ist das bei Fußballern ähnlich?
Ich habe neulich einen Film mit Will Smith und Matt Dämon gesehen. Er spielte eine Golfer. Der Ball liegt im Gras, nur einer halben Meter vom Loch entfernt. Da sagt dene: "Du musst etwas kräftiger schlagen." Fragt der andere: "Warum das denn?" Antwortet wieder der andere: "Die Sonne hat sich gedreht, das Gras hat sich gewendet, es wächst nun gegen den Ball." Auch Johan Cruyff beschaftigt sich damit. Der mag keine Stadien mit Dach weil das Gras dann keine Richtung hat und überall hin wächst. Und das ist ganz siehe o nicht lächerlich. Man muss den Ball doch ganz anders spielen und stoppen, wenn er mit oder gegen das Gras rollt. Bei der Technik eines richtigen Fußballers geht es doch genau dar um: um Millimeter. Auch wenn das Gras zu hoch ist, kann mancher Spieler doch gleich zu Hause bleiben.

Wie werden Sie die WM verfolgen? Zu Hause?
Ich werde mit Kindern im Klubhaus eines holländischen Dorfvereins sitzen und eine Fußballshow fürs Fernsehen machen. Wir werden die Spiele auf kindliche Art analysieren. Ich suche noch eine kleine Korrespondentin, die im Namen unserer Sendung bei den offiziellen Pressekonferenzen Fragen stellen darf. Wir werden auch kleine Korrespondenten in Afrika und Südamerika haben, mit denen wir über Fußball plaudern werden. Was denkt der Ball zum Beispiel. Es werden sieben Sendungen sein, bis Holland im Finale steht. Davon gehen wir aus. Und wir können tatsächlich Weltmeister werden. Eine Sache wird aber entscheidend sein.

Welche denn?
0b van Persie rote Karten kriegt oder nicht. Das wird darüber entscheiden, ob Holland Weltmeister wird. Schreiben Sie das bitte genau so. Er ist in der Lage an drei Mann brillant vorbeizugehen. Wenn ihn aber der vierte aufhält, dann kann er das nicht akzeptieren. Dann kann es passieren, dass er ihm einen Hau gibt oder den Ellenbogen irgendwo hinrammt. Er wird dann irgendetwas tun, was wir uns nicht leisten können. Im unbewachten Moment ist van Persie lebensgefährlich. Ich hoffe, dass dieses Interview jemand liest, der ihm das auch erklären kann. Wenn er unbedingt mitspielen soll, meinetwegen, nur muss er vorher seine Schwächen erkennen.