Volker S. Stahr schrieb am 06.10.2005 im Rheinischer Merkur Nr. 40
Weil ich so fröhlich bin
Es ist spät geworden. So spät wie bei keinem anderen, der in diesem Jahr auf dem 3sat-Festival der Klein- und Kabarettkünstler unterm Zirkusdach auf dem Mainzer Lerchenberg aufgetreten ist. Ungewohnt viele große Namen sind dieses Mal dabei: Urban Priol, Matthias Deutschmann, Dieter Nuhr, Katja Riemann und Portugals Fado-Queen Mariza. Doch nur einer steht kurz vor 23 Uhr - nach drei Stunden - noch auf der Bühne. Und das im donnernden Applaus des nach eineinhalb Wochen Festival verwöhnten Publikums. Applaus und Getrampel, die gemeinsam mit einer gewaltigen Atmosphäre fast magisch das Zelt mit seiner hohen Kuppel füllen. Eine sphärische Referenz an einen ganz Großen des Genres. Hollands Grandseigneur der Musikclowns, Herman van Veen.
Was die Stimmung ausgelöst hatte, ließ sich rundum auf der Bühne sehen. Doch was heißt Bühne? Schlachtfeld wäre das bessere Wort. Instrumente - Bass, Tuba, Saxofon, Geige - liegen herum. Unzählige Pingpongbälle und Silberkonfetti lassen an eine Winterlandschaft denken. Zusammenhanglose Requisiten wie Tempos, Rosenblätter und Zylinder sind wüst verstreut. Beredte Zeugen des Spektakels, das van Veen und seine Musikercrew abgeliefert hatten. Ein rasanter Mix aus Zirkus-, Zigeuner- und Straßenmusik, Varieté, clownesken Einlagen, virtuosen Soli, stimmungsvollen wie auch herrlich sinnlosen Liedern, musikalischen und textlichen Reverenzen an und aus einem großen Musiker- und Moralistenleben. Eine einzige Collage von 60 Jahren Leben und 40 Jahren Bühne - auf fruchtbaren Boden gefallen bei einem Publikum, in dem viele mit van Veen groß geworden sind.
Dass es ein so starker Abend werden würde, hätte man zweieinhalb Stunden zuvor nicht geahnt. Das Zelt war voll, die Stimmung gut, der Applaus erwartungsvoll. Doch mit dem ersten Lied hatte van Veen ungewohnte Distanz zwischen sich und das Publikum gelegt. "Flussviertel" erzählte von alten Juden in Amsterdam, von Aus- und Abgrenzung. Gut, Musik, Rhythmus, die gewaltige Stimme gehen noch immer ins Blut. Oder ist es nur die Erinnerung? Auch das Lied "Als ich noch ein Junge war" wirkte seltsam fern, wie es erzählt vom Kindsein auf der Straße, von der Frage der Mutter "Hast du die Schulaufgaben gemacht?", von den alten Huren im Amsterdam der Jugend. Kurz blitzt der "alte" Weltverbesserer auf. Als van Veen plötzlich, weg vom alten Text, von der jungen Frau an der Bahre singt und sie fragt: "Waren deine Schulaufgaben fertig - bevor du verwundet wurdest im Irak?"
Stunden vorher haben wir den Künstler im Hotel getroffen. Welcher Kontrast! Ein seelenloser glasierter und marmorierter Hotelkomplex, in der Ecke eines großen glatten weißen Raumes eine Sofaecke, wo uns ein etwas müder van Veen mit seiner Partnerin Erika Leerkes empfängt. "Hallo, ich bin Herman." Schlecht geschlafen habe er, steifer Hals, wo er doch am Abend Geige spielen muss. Stimmung sei ihm sehr wichtig. Sie trage seine Auftritte, sagt er. Doch Stimmung ist kaum zu spüren, weder im Hotelambiente noch bei ihm. Routiniert spricht er über seine Arbeit. Darüber, wie besonders das Leben sei und wie einfache Dinge überraschen könnten. Pflanzen, die kindliche Sicht auf Dinge. Nur die Erklärung, warum er mit "Amsterdam" anfangen werde, hat Substanz. Um sichabzugrenzen, zu zeigen, dass er kein Deutscher sei.
Hexenschuss beim Steppen
Das Gespräch verläuft glatt, ohne Höhepunkte. Doch was haben wir erwartet? Einen tiefgründig und zugleich spritzig die Welt erklärenden ewig jungen Altmeister der Clownerie? Jenen herumturnenden großen Jungen der Siebziger und Achtziger, der vom "Kleinen Fratz" und "Zärtlichen Gefühlen" sang, Kriegstreiber in aller Welt geißelte, in Windmühlen musizierte, als drahtiger Musikclown über die Bühne hüpfte und mit Kindern die Welt aufbauen wollte? Oder eine Kopie seiner kleinen elternlosen Ente Alfred Jodokus Kwak, die sich blauäugig allen Fährnissen der Welt entgegensetzte und als Trickfilm- und Comicfigur Erwachsene wie Kinder verzauberte? Doch vor uns sitzt ein stattlicher, fast wuchtiger Mann, der gerade 60 geworden ist. So wie wir das 21.Jahrhundert schreiben, ist das "große Kind" unserer Jugend erwachsen geworden. Und das heißt vor allem: anders - ruhig, reserviert, vielleicht routiniert.
Doch vielleicht ist auch der Interviewer noch nicht in Bestform. So merken wir erst später, dass vieles, was van Veen sagt, nicht "nur" glatt ist. Dass "Stimmung" das Schlüsselwort zu sein scheint. Wir merken es im Augenblick, als am Abend die Stimmung "kippt". Allerdings musste van Veen dem Publikum dazu ein klein wenig "Vergangenheit" geben - deren Vergangenheit, nicht seine zelebrieren. Es ist die Ente, als die er plötzlich singend über die Bühne watschelt und die den Ernst des Beginns löst. Und das Lied "Warum bin ich so fröhlich?". Von da an spielt van Veen virtuos mit Vertrautem und Neuem. Er erzählt, dass er Opa geworden ist - vor fünf Jahren. Er lässt "Onkel Franz" und "Kyrie Eleison" wieder lebendig werden. Er hat sich einen Hexenschuss beim Steppen geholt.
Es beginnt ein Feuerwerk, das van Veen mit Edith, dem alten Pianobegleiter Erik und Künstlern aus mehreren Ländern zündet. Rasche Tempiwechsel, Klamauk und Melancholie, Einlagen von Folk bis Geigensoli, Zigeunermusik und im nächsten Moment Pingpongbälle, die über die Bühne ins Publikum plätschern. Großartige Lieder mit mächtiger Stimme wechseln mit Unsinn und dem verträumten Blick. Doch der Musikant (Herman über sich) und Musikclown (wir über ihn) kommt nie ohne den Moralisten. "Join the army, see the world, meet the people - and kill them" kommt unvermittelt. Unvermittelter als früher. Oder das Lied vom "Kind in deinem Arm, das, eh' du dich versiehst, groß ist". Und das in der Afrika laute: "Vom Kind in deinem Arm, das, eh' du dich versiehst, tot ist". Was früher ganze Lieder trug, sind heute bittere Einschübe. "Man geht weniger Umwege", sagte er am Morgen.
Doch er ist nicht nur politisch. Er scheint auch privater geworden, direkter. Das Ende des Lebens nimmt mehr Platz ein. Offen singt er über Herzattacken und den Tod eines Freundes. Er textet Liebeserklärungen an die langjährigen Begleiter Edith und Erik ("Wir brauchen uns doch, wenn sie uns mal nicht mehr brauchen"). Doch selten bleibt Melancholie. Im nächsten Moment ist wieder anderes angesagt: Hard Rock, Klamauk, Tempotaschentücher oder Wortspiele. Oder "Johnnie, der immer mit auf der Bühne ist".
Blick auf die Uhr
Sagt's und nimmt einen tiefen Schluck aus der Whiskyflasche. Im nächsten Moment aber staunt wieder ein großes Kind über ein Solo eines Crewmitglieds. Auch das ist noch immer van Veen. Vielleicht mehr als früher lebt er in der Crew. Und im Publikum, für das er sich fast zum Schluss wie einst Elvis mit der Gitarre über die Bühne wälzt. Sie danken es ihm.
60 Jahre Leben und 40 Jahre Bühne. Aus dem "großen Kind" ist ein "großer alter Mann" geworden, in dem, wie in jedem Mann, ein Kind steckt. Dass es ein anderer von Veen ist, sein muss, zeigt auch die Vita. Oder die Internetseite. Sie heißt nicht von ungefähr www.hermanvanveen.com. Der Idealist hat sich zum Geschäftsmann entwickelt. Unter den Namen "Harlekijn" und "Herman van Veen Studios" werden Filme und Theaterstücke produziert, CDs und DVDs mit Musik gemacht, Merchandisingartikel wie die Figur Alfred vertrieben. Auch die Auftritte werden selbst gemanagt. Ähnlich gut organisiert sind die gemeinnützigen Aktivitäten. Jahrelang war er Vorstandsmitglied und Botschafter der Kinderhilfsorganisation Unicef Nederland. Er gründete eigene Organisationen: Colombine, die Stiftungen AJK (Alfred Jodokus Kwak) und Roos sowie die Herman van Veen Foundation.
Doch es bleibt das Schlüsselwort "Stimmung". Auch das Gespräch - obwohl gerade von einer Südafrika-Tournee zurück, schlecht erholt, im unguten Ambiente und direkt vor Proben - entwickelt sich langsam. "Musik" und "Kinder" sind Worte, die seine Stimmung ändern. Auftritte vor Kindern zählten zu den schwierigsten, da die weniger komplex seien. Erwachsene denken bei "rot" zugleich an Kommunismus. Für Kinder sei "rot" eine Farbe. Macht es das nicht leichter? Nein. Nein? Für ihn als Erwachsenen bleiben zwei Welten. Deshalb sei es anstrengender, vor Kindern zu spielen. Sagt es - und springt zu einem anderen Beispiel. Zur Unbeschwertheit von Kindern, Dinge zu tun, die sie nicht dürfen.
"Musik" und "Kinder". Es steht auch über den Berufswünschen, die Herman einst hatte. Pädagoge wollte er werden, Musikant sei er geworden. Obwohl: Musikpädagoge ist wohl besser. "Music in the Middle East" ist ein Projekt, in dem es sich verbindet. Und bei dem plötzlich die Routine der Begeisterung weicht. Für dieses Projekt hat van Veen Jugendliche aus sieben Ländern vereint. Israelis und Araber musizieren und kommunizieren neben- und miteinander. In verschiedenen Ländern, in Europa und USA. Und bald auch in Nahost. Als er dies beschreibt, vom Zusammenspiel von Instrumenten und von Menschen spricht, leuchten die etwas müden Augen. Leider sind wir etwas spät zu dem Thema gekommen. Schon vorher hatte er, wenn wir mit Edith Leerkes sprachen, das eine oder andere Mal verstohlen zur Uhr geblickt. Jetzt schaut er routiniert beiläufig und doch sichtbar direkt hin. Die Zeit ist um. Auch in dieser Hinsicht scheint van Veen erwachsen geworden. Oder direkter. In Gedanken schon weit weg.
"He, kleiner Fratz auf dem Kinderrad": Der sanfte Holländer schrieb die Hymne für alle, die an die Macht der Kleinen glaubten. Mittlerweile ist er im Rentenalter. Und erwachsen.