Markus Bruderreck schrieb im Juli 2005 ..... (Windekind)


60 Jahre Kriegsende:
Windekind - Ein Märchen

Ode an Selma Meerbaum-Eisinger

Schäfchenwolken und sprechende Bleistifte

Vor nicht allzu langer Zeit hat man an vielen Orten den 60. Jahrestag des Kriegsendes begangen. Nicht nur offizielle Feiern gab es in großer Zahl. Gerade auch den ermordeten Juden in Europa hat man gedacht, nicht nur mit der Einweihung des jetzt von Touristenmassen überschwemmten Berliner Mahnmals. Viele Künstler haben ihre eigene Annäherung an das Thema versucht.

So auch Herman van Veen, der große holländische Musikclown mit großer, treuer Fan-Gemeinde. Der Liedermacher und Poet ist es gewohnt, in großen Sälen aufzutreten. Für "Windekind" aber, ein Auftragswerk der Philharmonie, wählte er nun erstmals einen intimen Rahmen. Das Thema seines neuen Abends, der nun an vier Terminen in der Alten Synagoge und im RWE-Pavillon der Philharmonie uraufgeführt wurde, verträgt auch keine große Geste.

Das Schicksal der deutsch-jüdischen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger war tragisch: 1942 starb sie im Alter von 18 Jahren im ukrainischen Arbeitslager Michailkowa an Typhus. Von ihr weiß man nicht viel, im Ganzen hinterließ sie nur 57 Gedichte. 1924 wurde sie im rumänischen Czernowitz geboren, in einer Stadt, die auch die Heimat solcher großer Lyriker war wie Rose Ausländer und Paul Celan. Im Unterricht hat Selma oft und gerne heimlich gelesen - und ihren Schulfreundinnen nur selten jene Verse gezeigt, die sie vor allem ihrem Freund Lejser Fiehman "in Liebe" zueignete. Schon bald aber endet Selmas Leben, wie auch nur wenig später das ihrer Eltern. Und auch ihre erste und einzige Liebe Lejser sollte ebenfalls schon früh, 1944, auf einem Flüchtlingsboot ums Leben kommen. Selma Meerbaum-Eisinger wäre heute 81 Jahre alt.

Die Geschichte der Dichterin hat Van Veen nicht mehr losgelassen, immer schon plante er eine Hommage an sie. Die Vertonung der Originaltexte wurde ihm vom Inhaber der Rechte allerdings untersagt. "Man darf ja nicht so einfach Musik auf bereits bestehende Texte schreiben", meint Van Veen dazu. "Die Rechte sind verkauft worden. Aber ich habe da überhaupt kein großes Problem gesehen, denn unsere Idee war es sowieso, Spiegelgedichte zu schreiben, Antworten auf Selmas Zeilen und Verse. Ich habe mich besonders gefragt: Was hätte sie noch geschrieben, wenn sie weitergelebt hätte? Und was können wir daraus lernen? Das vermitteln wir in ‚Windekind' in einer Märchenform. Ab und zu springe ich an bestimmten ‚Kontaktpunkten' aus der Geschichte heraus, um zu erklären, was sie alles nicht erleben konnte." "Windekind" stellte für den Liedermacher eine durchaus ungewohnte Aufgabe dar. "Das war zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich - wie hier von der Philharmonie - einen Auftrag bekommen habe für ein Stück. Und das war vor allem auch spannend, weil zum ersten Mal eine Vorstellung nicht von mir handelt. Hier bin ich nur ein Instrument im Dienst einer Aussage, die ich für unwahrscheinlich wichtig halte: Vielleicht hilft Selma Meerbaum-Eisinger uns dabei, dass eine Apokalypse wie der Krieg und der Holocaust nie wieder vorkommen."

Van Veen träumt in "Windekind" von einer fiktiven Begegnung mit der Autorin in einem Broadway-Theater. Auf seinem Hotelzimmer entwirft er, angeleitet von Selmas sprechendem Bleistift, das Märchen von Windekind, der bedrohten Schäfchenwolke. Einer poetischen, sanft-verliebten Welt wie der von Meerbaum-Eisinger kann man musikalisch von der Stimmung her natürlich Vieles gegenüber stellen. Da befürchtet man Beliebigkeit. Nicht alle Lieder mögen für "Windekind" exklusiv und neu aus van Veens Feder geflossen sein. "Wunderkind" kennt man bereits, und "Wenn ich mir was wünschen dürfte" natürlich ist von Friedrich Hollaender. Zudem folgen nach Ende des Hauptteils einige Zugaben, die dann doch etwas aus dem Rahmen fallen: Da wird "Windekind" zum herkömmlichen Van-Veen-Konzert, und das ist schade.

"Windekind" ist kein zwingend konstruiertes Kunstwerk (was man wohl auch nicht erwartet hätte), sondern bleibt ganz Van-Veen-Konzert, allerdings mit Liedern, die oft unter die Haut gehen. Van Veen versteht es, Stimmungen zu erezugen, zu berühren, Gefühle zu wecken - und überzeugt zudem als Sänger wie als Instrumentalist, der immer wieder zur Geige greift und sie virtuos bedient. In vielen Liedern wird er von Edith Leerkes auf der Gitarre begleitet, temperamentvoll und voller Energie. Und die Darstellerin und Tänzerin Linda Lindheimer sorgt als Bühnen-Pendant der Dichterin für intensive Momente.

Zur Uraufführung am ersten Tag der Aufführungsreihe waren auch überraschend Verwandte der Dichterin erschienen, die eigens aus den USA angereist waren. Van Veen kümmerte sich nach dem Konzert sehr um sie. "Das muss für diese Menschen eine ziemlich beeindruckende Begegnung mit ihrer eignen Vergangenheit gewesen sein. Die kennen natürlich die Texte und die Geschichte von Selma. Ich fand es grandios, das sie hier waren und das wir diesen Damen einen unvergesslichen Abend bereiten konnten. Ich sage immer: Man singt für einen Menschen. Und wenn dieser Mensch das schön findet, hast du eine Zukunft."