Susanne Sturm und Alois Kurzmann schrieben 1988 in Pierrot...




Alles was wir vergessen, geschieht


Ich spiele und verschiebe Wirklichkeiten, damit sie eine andere Bedeutung bekommen


Er ist Sänger und Geiger, Pianist, Parodist, Tänzer, Schauspieler, Pantomime, Geschichtenerzähler und Clown: Herman van Veen, der 43jährige Holländer geht wieder einmal auf große Deutschland- und Österreichtournee
Interview: Susanne Sturm und Alois Kurzmann

Pierrot: Jemand, der soviel von dieser Welt sieht und mitbekommt wie Du, hat eigentlich keinen Grund mehr, Optimist zu sein. Wie schaffst Du es dennoch?
van Veen: Ich sehe mich als realistischen Pessimist. Das heißt, ich empfinde die Welt als ein perfektes Angebot. Und das besteht noch immer. Trotz der Umweltverschmutzung und dem irrsinnigen Rüstungswahnsinn. Wir müssen dieses Angebot nur nutzen.

Pierrot: Aber das Gegenteil ist der Fall.
van Veen: Das macht mich pessimistisch.


Erst die Angst macht Machthaber notwendig


Pierrot: Was kann man dagegen tun?
van Veen: Man muß immer wieder aufzeigen, wie die Dinge ineinanderstecken. Alle großen Bedrohungen sind in erster Linie ein Produkt der Macht. Und Macht hat alles mit Angst zu tun. Die sogenannten Machthaber haben immer ganz geschickt mir der Angst Manipulation betrieben. Sie haben uns suggeriert, wir müssten uns fürchten. Angst haben um den Arbeitsplatz, vor den Russen, vor den Amerikanern. Erst die Angst macht Machthaber notwendig. Dann bieten sie uns Hilfe und Schutz an, das heißt Armee, Kirche, Banken usw. Die Polizei braucht Demonstranten, die Armee einen Feind, die Kirche Gott und Hölle. Je mehr Angst wir haben, desto besser ist es für sie. Solange wir dieses Spiel nicht durchschauen, wird sich nichts bewegen. Wenn wir die Macht abbauen wollen, müssen wir sie transparent machen. Dann werden wir erkennen, dass diejenigen, die wir für die Machthaber halten, gar nicht die sind, die sie wirklich haben. Denn die eigentliche Macht liegt im Prinzip bei uns. Leider wollen wir das nicht glauben. Sonst hätte sich schon viel mehr geändert.

Pierrot: Was kann der Einzelne dazu beitragen?
van Veen: Man muß anfangen, gewisse Dinge in seiner direkten Umgebung nicht mehr zu akzeptieren. Wenn du mit einer Frau zusammenlebst und plötzlich merkst, dass du anfängst, für sie Entscheidungen zu treffen; wenn Du anfängst, darüber nachzudenken, was für deine Kinder gut sein könnte, ohne es mit ihnen zu besprechen, vergiß es. Wenn du glaubst, dass dein Chef an dem was du produzierst, zuviel verdient, akzeptiere es nicht. Das heißt nicht nur Streik. Nein geh zu ihm und besprich es, laß ihn böse sein und lächle.

Pierrot: Aber da kommt wieder die Angst vor dem Arbeitsplatz?
van Veen: Sicher. Aber irgendwann muß man aufhören, diese legitime Korruption, die Geschäft heißt, zu akzeptieren. Natürlich, solange es noch Hände gibt, die die schmutzige Dreckarbeit gerne machen, hat man als integerer Mensch wenige Chancen. Und solche Krebsfälle, die sich nicht nur als Krankheit in unserem Körper manifestieren, gibt es auch im Bewusstsein. Es gibt Leute, die Krebs im Bewusstsein haben und ihre Zeit aussitzen nach dem Motto: Die Ewigkeit wird mich nicht finden. Diese Menschen machen einen schrecklichen Fehler, denn sie realisieren nicht, dass sie mit ihrem Verhalten eine ganze Zivilisation zerstören.
Wir sollten solche Leute nicht verurteilen, sonder sie nur fragen: Du, warum bist du so arm, dass du versuchst, über meinen Rücken hinweg reich zu werden? Man sollte ihnen nicht mit Haß begegnen. Denn dieser Mann oder diese Frau haben sich nicht selbst gemacht. Er oder Sie haben in der Schule oder sonst wo gelernt, dass man mit Geld alles kaufen kann. Natürlich, fast alles ist zu kaufen, aber nur wenig Wesentliches. Kann ich eine Melodie kaufen?

Pierrot: Das hat sicher damit zu tun, dass dem Besitz ein falscher Wert beigemessen wird.
van Veen: Natürlich. Ein Maurer mauert eine Mauer, auch in der Hoffnung, dass ein anderer Maurer vorbeikommt und sagt: Mensch, das ist eine schöne Mauer. Aber ein Mann, der nur Geld scheffelt, eine Stapel Geld, wenn bei dem ein anderer Finanzier vorbeikäme und sagte: Oh, was für ein schöner Stapel Geld...
Ein Künstler oder Maler, der malt um etwas zu vergessen, um dann wieder weitermalen zu können und nicht, um etwas zu besitzen. Meine Großmutter sagte immer: Ein totes Hemd hat keine Taschen. Das ist alles.

Pierrot: Wenn man sich gewisse Politiker und Geschäftsleute anschaut, könnte man glauben, sie seinen überzeugt davon, ewig zu leben.
van Veen: Schau mal, zum Beispiel die Menschen, die Politik machen, sind nur Marionetten. Was sie wissen, stimmt sicher nicht mit ihrem Gewissen überein. Deshalb ist das alles möglich. Alle Probleme werden pragmatisch, technologisch, rationell, klinisch angepackt. Als Politiker kann man nicht gefühlsmäßig handeln. Deshalb ist die Politik so unmenschlich.

Pierrot: Und wir hätten guten Grund, uns vor dem nächsten Krieg zu fürchten?
van Veen: Der nächste Krieg? - Der nächste Krieg, vor dem man jetzt Angst hat, ist seit dreißig Jahren im Gange. Wir merken das kaum, weil die Toten leise fallen. Die Toten fallen - aber weit weg von uns. Wir hören ihr Geschrei nicht. Wir sehen es im Fernsehen in der gleichen Farbe wie Dallas. Man sieht die Unterschiede nicht mehr. Man weiß, was geschieht, aber zwischen Fühlen und Wissen klafft ein großes Loch. Es ist so groß, dass Fühlen und Wissen nur selten einander erreichen.

Pierrot: "Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut", wie Du in einem Lied singst.
van Veen: Man kann nicht einerseits sagen: Wir sind für den Frieden, und andererseits: Wir bauen Kriegsgeräte. Es sind meistens die Künstler, die die sogenannte Realität, die nicht existiert, und die Realität, die existiert, wieder miteinander verbinden.

Pierrot: Aber für viele ist diese sogenannte Realität ja wie eine unüberwindliche Mauer, vor der sie resignieren. Was kann man denen sagen?
van Veen: Wir müssen den Menschen klar erkennen lassen, dass das Problem nicht die Mauer ist, vor der sie resignieren. Das Problem sind wir selbst. Das Problem ist, dass unser Bewusstsein versteinert ist. Das wir das nicht mehr bezahlen. Ich meine nicht mit Geld, sondern mit unserem Gewissen. Mit unserem Bewusstsein.

Pierrot: Das heißt, wer etwas verändern will, muß das Bewußtsein der Menschen erreichen.
van Veen: Selbstverständlich. Was die Politiker zu sagen haben kennen wir, und wohin das führt wissen wir. Deshalb müssen wir versuchen, unser Bewusstsein zu verändern. Die Politiker werden ja zum Teil aus sehr irrationalen Beweggründen heraus gewählt. Und erst wenn wir die Menschen dahin verändern, dass sie Politikern, wie es sie jetzt und immer gibt, nicht die Verantwortung für unser Leben übertragen, erst dann können wir helfen, Rüstung zu verhindern und den Hunger aus der Welt zu schaffen.

Pierrot: Das ist ein Prozeß, der noch sehr lange dauern wird. Deshalb ist es sicher wichtig, jetzt Widerstand zu leisten.
van Veen: Natürlich. Aber man darf es nicht mit Angst oder Manipulation zu erreichen versuchen. Man darf nicht sagen: Nein gegen Raketen. Nein gegen Amerika. Man muß sagen: Ja für das Leben. Ja für die Seele. Ja für die Menschen.

Pierrot: Was muß also passieren?
van Veen: Man sollte den Widerstand entpolitisieren. Es gibt eine politische Realität im Westen und eine politische Realität im Osten. Aber in beiden Fällen ist das nicht die ganze Realität. Es ist nur ein Teil davon.
Dann gibt es den Süden, und dort sterben jeden Tag 40 000 Kinder den Hungertod, und im Norden gibt es Schnee, viel, schön und weiß. Die Wirklichkeit ist die ganze Erde. Und das müssen wir den Menschen ständig ins Bewußtsein rufen. Und zwar nicht nur von der negativen Seite aus.
Man muß, nur ein Beispiel, den Menschen erklären: Wir haben 100 Mark, und die Regierung gibt davon 99 Mark für die Rüstung aus und eine Mark für Entwicklungshilfe. Das bedeutet, dass wir dann 99 Mark dichter an unserem Tod sind. Man muß also kämpfen um zwei Mark und mehr für etwas Nützliches.
Dann sind wir um zwei Mark näher an unserem Leben.
Es hängt vom Standpunkt ab. Die Arbeit eines Clowns ist, die Dinge umzudrehen. Negativ kann Positiv werden, wenn man es vor einen Spiegel hält.

Pierrot: Du meinst, daß ein positives Buch oder ein schönes Lied mehr bewegen kann, als das ständige Aufzeigen von Mißständen?
van Veen: Es geht mir darum, es auf meine Weise zu machen, die niemanden belästigt, die kein Werturteil abgibt und die einfach ja sagt. Ich bin Musiker und Clown. Ich will versuchen, mit klaren Sachen etwas zu sagen, so daß die Leute etwas glücklicher nach Hause gehen, als sie in die Konzerte gekommen waren.


Ein Lied verändert nicht die Welt


Pierrot: Du willst mit Deinen Liedern also nicht die Welt verbessern?
van Veen: Ein Lied verändert nicht die Welt. Ein Lied verändert den Klang der Gesellschaft. Ein Gedicht, ein Buch, ein Artikel verändert - ohne daß es den Lesern bewusst wird - das Bewußtsein. Dem Leser wird ein Chip ins Gehirn geschoben, wodurch er sich verändert, auch wenn er´s nicht zugibt.

Pierrot: Wie lässt sich das positive Bewußtsein bei den Menschen noch stärken?
van Veen: Man muß damit vor allem in den Schulen beginnen. Und zwar mit dem Abbau der Ängste. Der Angst vor dem großen Busen der Mutter, der schweren Stimme des Vaters, der schwarzen Kirche. Daneben muß man endlich damit aufhören, nur den Verstand zu schulen. Sicher sollte man von Napoleon und Kriegsverbrechen erzählen. Aber genauso wichtig ist es zu erzählen, daß Napoleon nicht nur ein Held, sondern auch ein Arschloch war, der seinen Mangel an Länge damit kompensierte, daß er nach Russland marschierte. Ein Pflanze ist nicht weniger wichtig als Churchill.
Schon als Kind habe ich mich mehr mit der Farbe eines Gemäldes beschäftigt als mit Zahlen. Und viele haben gedacht, ich spinne. "Was hat der immer mit dem Wind?" Darüber wurde damals in der Schule kaum gesprochen oder über das Licht oder darüber, daß alles kleiner wird, je älter man wird.
Unseren Garten zu Hause habe ich als Kind immer für den größten Garten der Welt gehalten. Das war für mich ein riesiger Park. Der Baum, der in diesem Garten stand, war für mich der größte Baum der Welt. Ich fühlte mich wie auf dem Mond, wenn ich in seinem Wipfel stand, ich hätte nach den Sternen greifen können. Und all die Steine, die für mich wie gigantische Eisflächen aussahen, die schienen mir so groß zu sein wie Fußballfelder. Als ich 30 war, bin ich wieder in diesen Garten zurückgekommen. Der Garten war winzig, wie eine Briefmarke.

Pierrot: Du wählst den Weg des Künstlers, Deine Ideen den Menschen nahezubringen. Was bedeutet Kunst für Dich?
van Veen: Kunst ist für mich immer wie eine Öffnung, ein Loch in der Wand, das in eine andere Wirklichkeit führt. Ohne Kunst wäre die Welt schon total aus dem Gleichgewicht gebracht. Leider realisieren viele Menschen nicht genau, was die Welt im Gleichgewicht hält. Ein toter Beuys war ein großer Beuys. Ein lebender Beuys war ein lästiger Mann. Erst durch seinen Tod wurde er everybody´s darling, denn auf einmal war er nicht mehr unbequem. Kunst ist fast immer als ein Denk- oder Gefühlsansatz zu verstehen. Als eine Bewegung nach vorn, eine Hypothese. Schade allerdings, daß man sie nur in Gefängnissen sehen kann, in unzugänglichen Museen. Sie sollte viel mehr im Alltag stattfinden, auf Bahnhöfen und Flugplätzen, in Hotels. In Frankreich hat man das in der Metro schon fabelhaft ausprobiert. Und Kunst sollte nicht kommerziell sein, sondern echt.

Pierrot: Aber Kunst ohne irgendeine Form von Kommerz ist doch nur schwer vorstellbar. Was ist Dir denn wichtiger als der finanzielle Anreiz?
van Veen: Inspiration ist wichtig. Man versucht das aufzuschreiben, was man begreifen will. Und durch das Schreiben begreift man es tatsächlich. Und dann publiziert man es, um weiter schreiben zu können.
Ich überlege singend, das gibt mir enorm viel Energie. Sicher, ich verliere, während ich singe, auch viel Energie, aber singend gewinne ich auch viel Energie und Motivation zurück. Diese Art von Arbeit gibt viel Kraft und Lust, weiter zu machen.

Pierrot: Als was siehst Du Dich selbst auf der Bühne?
van Veen: Ich bin eine Art Spielmann auf der Bühne. Ich spiele und verschiebe Wirklichkeiten, damit sie eine andere Bedeutung bekommen. Als Künstler kann man die Weltkugel ein bißchen nach links verschieben, bis sie fast aus dem Gleichgewicht gerät. Sie kippt fast von der Bühne, und dann schiebt man sie eben wieder zurück. Ab und zu kippt der Globus auch von der Bühne, und dann knallt es. Aber es ist ja nur Theater. Und ich finde, man kann nicht über den Tag singen, wenn man die Nacht nicht kennt.

Pierrot: Das Publikum, das spontan zu Dir kommt, das aus Neugierde in Deine Konzerte geht, ist Dir das liebste?
van Veen: Am schönsten ist es natürlich, wenn zehn Leute, die einfach nur ins Konzert gegangen sind, weil sie gerade nicht anderes zu tun wussten, die gegenüber dem Theater wohnten und da aus Neugierde hingegangen sind, gleich anschließend ihre Schwiegermutter oder ihre beste Freundin angerufen und gesagt haben: "Du, ich war eben im Konzert von Herman. Der kommt aus Holland. Sein Französisch ist zwar sehr merkwürdig, ich war mir gar nicht sicher, ob es überhaupt Französisch ist, aber die Musik war so total schön, daß mußt du dir unbedingt morgen anschauen". Und wenn dann die Schwiegermutter oder die beste Freundin kommt, ist das einfach toll.

Pierrot: Du bist ja nicht nur "eine Art Spielmann auf der Bühne". Du engagierst Dich auch ganz konkret mit Deiner Organisation "Colombine", die in der Dritten Welt erfolgreich Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Was tut "Colombine" im Moment?
van Veen: Im Augenblick sammeln wir gerade Geld und machen Promotion-Arbeit. Das Geld ist für eine holländische Klinik gedacht, in der krebskranke Kinder, genauer leukämiekranke Kinder behandelt werden. Sie bekommen, so ihr Zustand das zulässt, Rückenmarkstransplantationen. Damit diese Behandlung anschlägt, müssen die Kinder lange Zeit unter einem Zeltdach liegen, in dem sie immun behandelt werden können. Zu diesem Zelt hat niemand Zugang. Das heißt, die Kinder können zwar besucht und auch gesehen erden, aber die Eltern dürfen sie nicht anfassen.
Ich will das mal drastisch ausdrücken: Man kann doch nicht jemanden, der in einer so kritischen Phase steckt, daß man nicht weiß, ob er sie überleben wird, in ein Kondom verpacken, so daß man ihn in seiner möglicherweise letzten Lebensphase nicht einmal mehr anfassen kann.


Wir haben einfach nicht genügend Vertrauen. Das ist unser Schicksal


Pierrot: Willst du mit "Colombine" auch ein Zeichen setzen, daß es sich lohnt, Vertrauen in die Zukunft zu haben?
van Veen: Nimm mal Jesus, wie er über das Wasser läuft. Es geht nicht unter, sondern wird vom Wasser getragen, weil er ein so absolutes Vertrauen in das Wasser hat. Ich bin überhaupt nicht religiös, aber trotzdem ist Vertrauen für mich ein ungeheuer wichtiges Wort. Jemandem so vertrauen zu können, dass man nicht untergeht, ist phantastisch. Ich selbst würde mich nie trauen, ohne Schwimmweste loszulaufen. Das ist unser Schicksal. Wir haben einfach nicht genügend Vertrauen.



SUSANNE STURM und ALOIS KURZMANN