Christ in der Gegenwart
Hans Hegener

Stolperstein des Weltleidens

Oder: Das Kreuz der Wirklichkeit / Zu den Liedern des Hermann van Veen

30 okt 1983

Hermann van Veen, geboren 1945 in Utrecht, hat sich durch viele Säle und Städte in die vorderen Reihen der Sänger, Texter und Tänzer gespielt. Dieser niederländische sozial-existentiell ausgerichtete Künstler sagte einmal über sich selbst: "Ich glaube nicht an Systeme oder an Philosophie oder an den Glauben. Ich glaube, das einzige, wovon man etwas weiß, ist man selber. Man kann nur durch seine eigenen Augen sich in der Verantwortlichkeit manifestieren."


Van Veen spricht in vieler. seiner Lieder und Texte (das Rowohlt-Bändchen "Worauf warten wir?', 1981, war ein großer Erfolg) eine eigenartige religiöse Sprache, gleichzeitig greift er jedes Thema auf, das bei Jugendlichen etwa ab 17 "in" ist: Friedensfrage, Drogen, Sex, Jugendsekten, Freitod, Atombomben, Technik und Phantasie ... Van Veen nimmt auch den modernen Jesus-Trend auf, aber im Gegensatz zu anderen Liedermachern in einer unverhohlen kritischen Weise, eine Eigenheit, die ihn bei manchen Jugendlichen natürlich empfiehlt.

Das Problem, das viele Gedichte van Veens miteinander verbindet, ist die berechtigte Frage nach der Wirklichkeit des Leidens in der Welt. Diese Anfrage, aus einem verletzten Gemüt kommend, richtet sich aus dem Horizont junger Menschen heraus gerade an Jesus selbst. Dabei verbinden die meisten Lieder van Veens, mehr oder weniger abrupt, Sentimentalität, ja Herzlichkeit oft mit einem bizarren, zuweilen drastischen Einfall. Die Massivität des Irdischen und das Glücksverlangen stehen im Widerspruch:

Jesus, erklär mir
Jesus
erklär mir
warum sprang der ausgelöschte viel zu junge Mann
von so hoch nach unten?
Jesus
warum räumte er seine Sachen
bevor er sprang so schön ordentlich auf?
warum mußten
deine Kinder seinen verstümmelten Körper finden? Jesus
hätte er nicht einfach
in der Sonne schmelzen können?


Damit ist zugleich das beherrschende Motiv des Freitodes in vielen dieser Gedichte zur Sprache gebracht. Weil Gott und mit ihm Jesus die Wirklichkeit des Leidens in der Welt nicht meistern können, sind sie nicht ernst zu nehmen, ja, beide sind im Grunde selbst gestorben.
Was Gott deshalb nicht kann, das vermag, biochemisch versiert, das emanzipierte Individuum.
Über den Tod frei verfügend, vermag es dessen Ernst Glück, ja Zärtlichkeit abzugewinnen:

Tod zu verkaufen
herrlich frischer Tod zu verkaufen
Tod wie ein Kuß
Tod wie eine Umarmung
dieser Tod ist wie die Sonne
wie Mandarinen
noch sanfter als weiße Kaninchen
ich hab sogar einen Tod aus Daunen ... schau, schau, schau
wir sind mit zu viel
zu viel Menschen auf der Kugel
die Kugel ist aus dem Gleichgewicht,
die Dinge liegen schief.
Das geht nicht mehr
das müssen wir verändern ...
übrigens
man flüstert
Gott
ist auch schon tot.
Kommen Sie näher, wollen Sie mal probieren ...
sehn Sie
es ist todeinfach.

Auf der Suche nach dem wahren Leben vermag der Freitod Jugendlicher auch gesellschaftliche Ursachen zu haben, etwa die Gleichgültigkeit der Umwelt:

Und sie kommt aus der Klinik
und ist clean
sie ist davon ab
und sie dreht jeden Wasserhahn auf
und sie reißt alle Fenster auf
Papa, Mama,
ich bin wieder da.

Und Vater nickt zerstreut,
ja ja mein Kleines, alles klar
die Sportschau ist gleich zu Ende
und Mutter winkt vom Telefon
es ist Tante Annie
Schätzchen, ich bin gleich da
und die Schwester macht grad Algebra
Und sie kommt aus der Klinik
und ist clean
runter vom Stoff
und sie rennt die Treppe hoch, zum Dach
und ruft: Papa, Mama
ich kann fliegen!
Gott erscheint angesichts seines Unvermögens als Kollege des Menschen. Die Gott-ist-tot-Theologie ermöglicht jedoch Fortschritt und Befreiung, Emanzipation. Gedanken dieser "Theologie" finden mit diesen Songs und Erzählungen ihren Weg in die Diskotheken.
Gott wird im Grunde zur Chiffre der unbewältigten Vergangenheitslehre des Menschen. In der Geschichte von Gott III heißt es über Gott und Jesus:

Es lag an dem Dilemma mit der Kernenergie.
Nach und nach war ihm alles völlig aus der Hand geglitten.
Angefangen hatte es bei Hiroshima ...
Nein, er [Gott] mußte zugeben, daß er versagt hatte.
Das blaue Wunder samt seiner Bewohner war im Begriff,
völlig aus den Fugen zu geraten.
Eine Sünde um die ganze Mühe,
eine Sünde um den Glauben.
"Ich glaube nicht, daß sie es auf dieser Welt von dir schaffen,
sich aus der Patsche zu helfen", hatte letzthin ein Kollege von ihm gesagt.
"Nur über meine Leiche!" hatte Gott gelacht.

Gott, der angesichts der Unvollkommenheit der Welt und des jugendlichen Verlangens nach Glück und Zärtlichkeit eigentümlich ohnmächtig erscheint, inkarniert sich dann folgerichtig aus dieser Welt der Jugendperspektiven - ohne, daß auf van Veen das Etikett "Berufsjugendlicher" ganz zutreffen muß - als Opa in "Das sind meine Möven". Als bloß liehe Ömä wird er von dem Sänger in einem Haus aus der Welt von gestern in der Geschichte von Gott II entdeckt:

Mein Herz stand still ...
das war die Chance meines Lebens.
Gott vor dem Himmel zu sprechen ich hatte tausend Fragen
und nahm mir vor, mit etwas ganz Einfachem zu beginnen ...
warum sind in deinem Namen
und dem des Vaterlandes soviel Kriege
geführt und soviel Menschen geopfert worden.
Ich blieb nervös
holte tief Luft
und klopfte an die Tür.
ein kleines
liebes
altes Frauchen öffnete.
"Guten Tag
ist Gott zu Hause?" "Du sprichst mit ihm, junger Mann!"

Gott wird hier Chiffre für menschliches Versagen, falsche Gottesbilder werden indirekt kritisiert.
Elemente, die an die Welt der Jugendsekte der Kinder Gottes erinnern, begegnen in dieser Welt der Disko-Kultur, in der Geschichte von Gott I.
Gott ist auch hier alles kosmischen, ja überweltlich Großen entkleidet.
Er wohnt auf einem Hügel und hält Abrechnung mit dem vorgestrigen, modrigen Fremdkörper, der mitten in seiner grünen Welt um einen Mann an einem Lattengerüst aufgebaut ist Es handelt sich um den Gekreuzigten und seine Kirche.

Eine ökologisch heile, ungebrochene, grüne Natur, die es in Wirklichkeit ja nicht gibt, bietet sich van Veen als intelligente, vom Weltleid nicht betroffene Lösung an:

Wenn das hier das Haus Gottes ist,
Junge, warum blühen hier dann keine Blumen,
warum strömt dann hier kein Wasser
und warum scheint dann hier die Sonne nicht...?
Und Gott lief fröhlich pfeifend
aus der Kirche
auf den Platz,
da sah er auf einer Bank
einen kleinen Kerl
in der Sonne sitzen
und Gott schob sich neben das Männlein,
schlug die Beine übereinander
und sagte:

Kollege!"


Van Veen fehlt hier das tiefere Gespür für die Wirklich keit der Kirche, die, so kritisierbar sie auch ist, doch nie nur das Kreuz, das Leidensdunkel, verkündet, sondern den Passah-Durchgang vom Leid zur Auferstehung hin.
Wie hier im übrigen Dunkel- und Tagwelt, Vergangenheit und Gegenwart, Jung und Alt polarisiert werden, das ist nicht hilfreich; denn die Jungen sollen ja im Reifungsprozeß fähig werden, erwachsen zu werden, Vergangenheit zu integrieren, wie umgekehrt die Älteren das Kommende, Beginnende.

Wenn van Veen in einem Gedicht nicht die A-Bombe, sondern die Sünde als eigentlich schlimme Erfindung der Menschen bezeichnet, so braucht hier Sünde nicht unbedingt eine theologische Qualität gegenüber der humanen mehr zu besitzen.
Doch besticht in dieser Welt der van Veenschen Jugendkultur die Solidarität mit den Leidenden, das Mitfühlen mit denen, die erfahren, was eigentlich in dieser Welt keinen Raum haben sollte:

Auf dem Weg
Auf dem Weg nach Hamburg
lag eine Hand
ich hab sie gedrückt.

Für den Christen stellt sich gleicherweise die Frage nach dem Leid in der Welt Der Leidverfallenheit gegenüber sucht er deshalb auch nicht sich immer wieder an wie immer geartete Vertröstungen, wechselnde Trends, zu halten, sondern durch je größere Selbsthingabe zu antworten, gerade im Hinblick auf das Leben derer, die in der Welt zu kurz gekommen sind. In der Ohnmacht des Mannes am Kreuz leuchtet für ihn eine großartig machtvolle, leidüberwindende und erneuernde Kraft auf.

Gott, für van Veen Kollege, das ist zu wenig. Diese Anrede beläßt ihn zu sehr in einer eingeebneten, nur verwalteten, versachlichten Welt ohne die der ganz anderen Gottes.

Der Mensch als Mitarbeiter, Kollege, an der Vervollkommnung der Welt der Schöpfung, das ist andererseits auch nicht wenig.



Hans Hegener