AZ
Andreas Radlmaier

Ein Paradies, wo man noch alle Haare hat

28. April 1992

AZ-Interview mit dem holländischen Entertainer-Star Herman van Veen, der nächste Woche in Nürnberg gastiert

„Verwacht“ steht auf dem Tourneeplakat, und das hat, erklärt der holländische Entertainer, überhaupt nichts mit einer vermeintlichen Zeugen-Jehova-Untergangsstimmung zu tun, sondern bedeutet schlicht „erwartet“. Erwartet wird Herman van Veen auf seiner 15 monatigen, bis Ende Mai 1993 dauernden Konzert-Reise auch für zwei Abende in Nürnberg (am 6. und 7. Mai in der Meistersingerhalle; Karten gibt es noch in der AZ-Schalterhalle, Winklerstr. 15). Der hochdekorierte Clown mit dem lichtem Haar, der zwischen Hongkong und New York unterwegs ist, 50 oder mehr verschiedene Schallplatten in vier Sprachen veröffentlicht hat (van Veen: „Das ist ziemlich unpraktisch - sagt meine Plattenfirma“), sich in seiner Entwicklungshilfe-Organisation „Columbine“ engagiert und mit der in doppeltem Sinne ausgezeichneten Zeichentrickserie über die Ente Kwak auch die Fernsehzimmer Europas erobert hat, dieser Clown aus Überzeugung sieht sich weniger als fröhlichen Skeptiker denn als „pessimistischen Realist“. Wir sprachen mit dem stillen Star.



Sind Sie nach über 20 Bühnenjahren immer noch der „rastlose Romantiker“, wie Sie Heinz-Rudolf Kunze mal genannt hat?
Herman van Veen: „Hätte ich keine Lust mehr, würde ich es nicht tun. Ich mag es gern. Man ist ja auch nie fertig. Man sucht die Auftritte zu verbessern, klarer und schöner zu machen. Wenn dieses Verlangen mal aufhört, höre ich auch auf.“

Es gebe immer noch viel zu begreifen. Und das fallt dem Bühnen-Magier in einer Welt des leisen Wahnsinns zunehmend schwer. Der um sich greifenden „politischen Apathie“, den „schweigenden Mehrheiten“ in Belgien, Holland, Frankreich oder Deutschland spürt der Zauberstabhochspringer aus dem Wunderland der Weltverbesserer im laufenden Programm nach.

Herman van Veen: „In diesem Konzert geht es um Machtstrukturen,um die Frage, wer zieht woran. Da bin ich die Marionette, die zeigen will, wer alles mir zieht. Das kann alles mögliche sein: Familie, Politik, Angst. Ich versuche das zu sehen nnd in Unterhaltung umzu-setzen. Das ist. verdammt noch mal, nicht leicht! Ich bin zwar nur der zeitungslesende politische Durchschnitts-Laie, aber ich habe das Gefühl, daß Geld und Industrie heute viel mehr bestimmen, was Politiker zu tun haben, als eine Wahl. Dieses Undurchsichtige fasziniert mich. Die Versprechen der Politik waren noch nie so verlogen, nach einem halben Jahr ist alles vergessen. Die Politiker kümmern sich mehr um ihre Pension. Und das ist legitim. Das ist doch das Merkwürdige! Da fragt man sich, wie kriegt man das wieder aufs Gleis.“

Ja, wie?

Herman van Veen: „Klar, mit Unterhaltung kann man sicher nur erreichen, daß jemand wieder Mut faßt. Gefragt sind wohl Presse, Fernsehen, die Medien, die das hier haarscharf auseinandernehmen müßten.“

Wenn man sich die letzten Platten Herman van Veens anhört, glaubt man, er wäre noch sanfter, vielleicht auch bonbon-farbener, sentimentaler geworden. . .

Herman van Veen: „Das ist eigentlich ein Suchen. Ich bin ein Sucher nach einem verlorenen Paradies, wo man noch alle Haare hat. Tief in mir stecktum van Veen: „In die-n/itrj gehtes um Macht-ren, um die Frage, wer iran. Da bin ich die Ma-, die zeigen will, wer al-itr zieht. Das kann alles e sein: Familie, Politik, Ich versuche das zu se-I In Unterhaltung umzu- mal, nicht leicht! Ich bin zwar nur der zeitungslesende politische Durchschnitts-Laie, aber ich habe das Gefühl, daß Geld und Industrie heute viel mehr bestimmen, was Politiker zu tun haben, als eine Wahl. Dieses Undurchsichtige fasziniert mich. Die Versprechen der Politik waren noch nie so verlogen, nach einem halben Jahr ist alles vergessen. Die Politiker kümmern sich mehr um ihre Pension. Und das ist legitim. Das ist doch das Merkwürdige! Da fragt man sich, wie kriegt man das wieder aufs Gleis.“ Ja, wie? Herman van Veen: „Klar, mit Unterhaltung kann man sicher nur erreichen, daß jemand wieder Mut faßt. Gefragt sind wohl Presse, Fernsehen, die Medien, die das hier haarscharf auseinandernehmen müßten.“ Wenn man sich die letzten Platten Herman van Veens anhört, glaubt man, er wäre noch sanfter, vielleicht auch bonbon-farbener, sentimentaler geworden. . . Herman van Veen: „Das ist eigentlich ein Suchen. Ich bin ein Sucher nach einem verlorenen Paradies, wo man noch alle Haare hat. Tief in mir steckt natürlich eine Riesenwut: Das Angebot der Erde ist riesig, aber es wird nicht ernstgenommen. Ich vollführe einen Spagat zwischen Wut und Melancholie und versuche dabei nicht zynisch zu werden. Das ist schwer. Feststeht, wenn unser Verstand explodiert, dann knallt alles auseinander.“

Ist es noch fünf vor Zwölf?

Herman van Veen: „Zwölf Uhr ist schon vorbei, aber wir spüren es nicht. Nehmen wir das Auto: Da läuft die Apokalypse längst. Ich habe das Gefühl, die Leute leben in einem Wohlstandstraum. Das ist doch viel verlogener als der Traum von sogenannten Spinnern.“ Irgendwann sprachen Sie mal von einem Niemandsland, einer Schatienwelt, in der Sie spielen. Ist das die persönliche Traumwelt?

Herman van Veen: „Es ist keine Traum-Welt. Es gibt eine Traumwelt, die heißt Praxis. Angenommen, ich käme als E. T. in dieses Hotelzimmer. Ich schalte den Fernseher an und sehe auf sieben Kanälen die Übertragung desselben Tennisspiels. Bei der Rückkehr auf meinen Planeten würde ich sagen, daß für die Menschen ein Spiel mit einem kleinen gelben Ball das Wichtigste ist. In der Zeitung erscheinen acht Seiten über Sport, aber keine acht Seiten über eine krepierende Welt. Wo ist denn da die Traumwelt?“ Seine Konzerte wollen keine Zirkuserotik ausstellen, sondern den Alltag illustrieren.
Er liebt Aufrufe zur Phantasie und Veränderung. Er sei heute 47 und spiele deshalb wie ein 47 jähriger, und Zuschauer, die „eigentlich einen toten Herman“, den von früher, sehen wollen, muß er enttäuschen. Erwartungshaltungen sind ihm ein Greuel. Besonders die gegenüber Kindern'. Van Veen: „Kinder haben das Recht auf Identität. Man muß ihnen die Freiheit geben, auch das zu werden, was vielleicht merk-1 würdig ist. Was die fühlen, ist nicht verkehrt.“



Herman van Veen: „Weil sie Sicherheiten aufbauen. Sie haben Angst, neben dem Hauptstrom zu liegen. Im Niemandsland ist es leer. Und einsam zu sein ist nicht modern, sondern verdächtig.“

„Clowns“, die neueste Platte, ist untertitelt mit „für Kinder bis 107 Jahre“. Gleichzeitig sprechen Sie darauf komplexe Themen an. Gibt es keine Verständnisgrenze nach unten?„ Herman van Veen: „Kinder verstehen selbstverständlich auch Schwieriges. Das geht gefühlsmäßig über Stimmungen und Stimmen. Kinder reagieren darauf, wenn im Zimmer das Licht ausgeht. Es geht nicht um einzelne Wörter, Details.“

Sind ihre Konzerte also Familienprogramme?

Herman van Veen: „Eigentlich sind es Konzerte für Leute, die nicht vergessen, daß sie Greise waren.“

Wie meinen Sie das?

Herman van Veen: „Ja warum gibt es denn so viele nette Omis und Opis? Weil diese Menschen realisieren, daß sie etwas verpaßt haben in ihrem Leben. So spiele ich für Leute, die Mut haben, sich verwundern zu lassen und die keine Antworten suchen. Es gibt ja kaum vernünftige Fragen.. .“

In Ihrem kosmischen Märchen dürfen „Clowns“ freudlosen Erdbewohnern das Lachen zurückbringen. Glauben Sie an Clown-Power?

Herman van Veen: „Zuerst: ich bin ein Clown. Aber Clown-Power - das ist mir zu klischeemäßig. Ich mag ja Zirkusclowns nicht so sehr, den Humor, ihre Derbheit. Was ist ein Clown? Jesus etwa ist auch ein Clown gewesen. Er ging über das Wasser. Alle sagten, das gehe nicht, aber er tat es. Das ist ein typischer Clowns-Act. Es war so naiv, so licht, daß ihn das Wasser getragen hat. Ein Clown ist einer, der die Kehrseite der Sache zeigt. Es geht ums Lachen, Weinen, über den Schatten springen, den Schatten fangen, den Schnee aufbewahren, das Unmögliche möglich zu machen.

Alles, was



Andreas Radlmaier