Giessener Anzeiger
Fritz-Werner Haver

„Weil ich ein Vogel bin, der fliegen kann“

Gespräch mit Allround-Künstler Herman van Veen

28. januar 1989

„Ich wollte Clown werden - ich will immer noch Clown werden“: Seit siebzehn Jahren zählt Hermann van Veen zu den führenden Theaterkünstlern Europas. Der Clown, Liedermacher, Sänger, Musiker, Schauspieler, Spaßmacher, spielt mit seiner Gruppe vor ausverkauften Häusern. Bei seiner letzten Europa-Tournee erlebten mehr als eine halbe Million Zuschauer einen Abend mit Herman van Veen - diese eigenartige Mischung aus Spaß an der Musik, plötzlichem Ernst und phantasievoller Alberei. Begonnen hat seine Karriere in seiner holländischen Heimat, wo er 1945 als Sohn eines Schriftsetzers geboren wurde. Er studierte Geige und Gesang am Konservatorium in Utrecht. Aber der Sinn stand ihm nicht so sehr nach der klassischen Musik; und bereits ein Jahr nach seinem Abschluß hatte er mit seiner Theateraufführung Harlekin in Belgien und den Niederlanden einen großen Erfolg. „Er ist der Typ Künstler, der, von der einen Eisscholle zur anderen springend, das Ufer erreicht, statt zu warten, bis es taut und dann mit dem Paddelboot überzusetzen.“ Das sagt der Pianist Eric van der Wurff, der seit mehr als 25 Jahren mit Herman van Veen zusammenarbeitet. Im Restaurant „Die Glocke“ in der Hansestadt Bremen, einem großen Raum mit gediegener Atmosphäre, sitzt Herman van Veen, in eine blaue Jeansjacke gekleidet und bestellt einen Tomatensaft. Seine Augen sind wach; die Wahl seiner Worte sehr bewußt. Doch nach und nach wird das Gespräch einem seiner Konzertabende immer ähnlicher. Da erzählt er kurze Geschichten, die sehr lustig sind, lacht - und im nächsten Moment ist alles ganz ernst. Ein Gesprächspartner, der seine Umgebung mit sensiblen Antennen wahrnimmt, sicher auch ein geschickter Rhetoriker - vor allem aber ein Künstler, der einen nicht gleichgültig läßt. (Das Gespräch führte Fritz-Werner Haver.)




Frage: Deine Konzerthallen sind immer ausverkauft. Wie erklärst du dir deine große Resonanz ?

Veen: Vielleicht weil ich meinen Beruf sehr mag. Die Leute schätzen immer jemanden auf der Bühne, der mag, was er tut. Und man sieht auch auf der Bühne, daß es ernst gemeint ist, auch der Spaß. Ich'wüßte nicht, was ich anfangen sollte, wenn ich diesen Beruf nicht hätte. Er ist eine fantastische Möglichkeit, viele Sachen, die ich nicht kapiere, loszuwerden. Diese Dinge sind immer interessanter als jene, die ich begreife.

Du arbeitest viel in Frankreich, in deiner Heimat und den Vereinigten Staaten. Wie ist es für dich in Deutschland?

Ich erfahre es als ganz fantastisch, daß ich in diesem Land so willkommen bin. Ich will nicht sagen, daß mich das verpflichtet; aber ich finde es einfach sehr schön. Singst du gerne auf Deutsch? Wahnsinnig gerne. Von allen Sprachen, in denen ich singe, ist Deutsch die sanfteste. Eine Sprache, die sehr leicht und hoch im Kehlkopf wohnt. Holländisch kommt irgendwo von unten - eine Kehlkopfkrankheit, wie man ironisch sagt - Französisch ist sehr nasal, und Englisch hat die komischen Zungenbewegungen.

Hängt dein Erfolg hier bei uns auch damit zusammen, daß das Publikum dich versteht, wenn du auf Deutsch singst oder sprichst?

Das hat natürlich sehr viel damit zu tun. Ich habe mir die Mühe genommen, diese Sprache kennenzulernen. Je mehr ich von ihr weiß, desto deutlicher erkenne ich, wie wenig ich diese Sprache noch spreche. Aber in Gesprächen und auf der Bühne kann ich mich jetzt ganz okay verhalten. Das hilft enorm, und dabei spielt - glaube ich - auch unser holländischer Akzent eine Rolle. Das klingt wohl nett. So wie es auch wahnsinnig nett klingt, wenn ein Ausländer sich die Mühe macht, Holländisch zu lernen. Auch wenn er es total verkehrt ausspricht, klingt es okay, weil er einen Schritt macht. Das ist wichtig.

Du bist bald wieder in der DDR. Ist es da anders als in Westdeutschland?

Ja, weil die Leute da weniger Raum haben. Sie sind wie in einem Park, wo sie nicht heraus und herein gehen können. Deshalb kennen sie meine Texte besser als ich, auch mehr Bedeutungen. Sie drehen ein Blatt sechsmal um und hören ein Lied neunmal. Wir hören es vielleicht nur ein- oder zweimal oder lesen ein Buch nur einmal. Ich habe gute Freunde da, und die Konzerte sind etwas ganz Besonderes, weil ich ein Vogel bin, der fliegen kann, und die Leute Vögel, die nicht fliegen dürfen. Und so komme ich rein und erzähle und flieg raus und erzähle, wenn es klappt. Aber es klappt nicht immer. Weü ich dann nicht wieder reinkomme für zwei oder drei Jahre, weü ich wieder etwas geflüstert oder gesagt habe, was nicht paßt.

Hast du Schwierigkeiten gehabt, das erstemal nach Deutschland hinzugehen wegen der deutschen Vergangenheit? Hast du da eine Schranke empfunden?

Ja, aber das habe ich heute noch, weil man immer damit konfrontiert wird. Wenn man zum Beispiel hier am Nebentisch diesen älteren Herren über Frauen reden hört, wie die da mit nacktem Busen am Strand rumlaufen und wie grausam er das fand, dann denke ich in meinem Herzen: „Gott sei Dank hat er es nicht mehr zu sagen“. Diese Klarheit bei bestimmten Leuten, diese Hartheit von Wissen - das ist ein Faktum. Die Vergangenheit lebt hier, und der begegnet man. Das ist eine absolute, ausgesprochene Realität. Und mein Konzert hier fängt immer an mit dem ersten Wort, das ich sage: „Es war Krieg, 1945. Deutsche Soldaten marschierten durch nasse, holländische Straßen. Spatzen flüchteten, Aasgeier lachten sich ins Fäustchen. Hühner machten sich schön. Und ich lag im Bauch meiner Mutter und wartete.“

Es geht ja auch bei deinen Texten oft um Gefühle. Wenn zum Beispiel ein Deutscher sagen würde: Jeh hab’ ein zärtliches Gefühl“, dann klingt das anders als bei dir.

Das stimmt sicher, obwohl die ersten Reaktionen auch hier darin bestanden, daß man sagte, ich müsse schwul sein. Knallhart. Das hat mich verletzt, muß ich sagen. Doch langsam hat man sich daran gewöhnt, daß man als Mann auch über seine Gefühle was sagen kann, selbst wenn diese Gefühle so zerbrechlich sind wie zum Beispiel in diesem Lied.

Veränderst du die Programmstruktur auch mal, oder bleib das im wesentlichen gleich?
Die Struktur ist immer die gleiche. Man fängt an mit „Hallo“. Man mißtraut einander, fragt sich: „Was soll ich in diesem Beruf? Was macht ihr hier?“ woher sie kamen und wohin sie gingen. Natürlich haben auch früher schon auch Leute wie Jacques Brel, Bert Brecht und andere großen Einfluß auf mich gehabt. Aber in dieser eigentlichen mittelalterlichen Tradition sehe ich auch die Musik, die ich selber schreibe.
Und dann so langsam, wenn man dann so vorsichtig einander abgetastet hat, dann kommt das, was wir den Wendepunkt nennen. Dann muß man den Leuten in die Seele greifen, und die Leute müssen mich nehmen. Und nach der Pause sind wir Freunde. Dann wird es Kommunikation und Wahnsinn, Idiotie und Ernst und alles. Immer die gleiche Struktur - wie erzähle ich es nicht, und wie kann ich es so erzählen, daß sie das nächstemal wiederkommen?

Wie würdest du dich selbst musikalisch einordnen?

Es gab im Mittelalter eine Periode in Westeuropa, die kann man stolz die Periode der Niederländer nennen. Die Zeit der Touvere und Troubadoure, der Liedermacher, die immer unterwegs waren und nicht so sehr wußten, woher sie kamen und wohin sie gingen. Natürlich haben auch früher schon auch Leute wie Jacques Brei, Bert Brecht und andere großen Einfluß auf mich gehabt. Aber in dieser eigentlichen mittelalterlichen Tradition sehe ich auch die Musik, die ich selber schreibe.

Was beschäftigt dich zur Zeit am meisten?

Der Gedanke, wenn ich sterbe und welche Welt dann meinen Enkelkindern bleibt: ein Ozonproblem, eine Natur, die total zerstört ist, eine Rü-sfungsidiotie, die so wahnsinnig viel Geld kostet. Ds sind alles schon Klischees, aber trotzdem Wirklichkeit. Diese Welt hat kaum Chancen, zu überleben. Als Kind fand ich es immer

Was beschäftigt dich zur Zeit am meisten?

Der Gedanke, wenn ich sterbe und welche Welt dann meinen Enkelkindern bleibt: ein Ozonproblem, eine Natur, die total zerstört ist, eine Rü-st,.ungsidiotie, die so wahnsinnig viel Geld kostet. Ds sind alles schon Klischees, aber trotzdem Wirklichkeit. Diese Welt hat kaum Chancen, zu überleben. Als Kind fand ich es immer schön, als erster durch den meinen Schnee zu gehen. Und dieses menschliche Verlangen, als erster durch den Neuschnee zu gehen, bringt uns um. Weil man derugehnee erst fragen sollte. ..RaiW'nrHr“Schnee bewahren?“.-habe ich mich als Kind gefragt? Kann man vergessen! Kann man diese Erde bewahren? Kann man vergessen. Wir haben Sachen weggeholt in unse^ rer Welt, die nie mehr wiederkommen. Und ich weigere mich ku sagen, daß das Evolution ist. Für mich ist das Vernichtung. Ich kann vielleicht meinem Enkelkind sagen: „Da war einmal ein Baum, und der sah so und so aus.“ Und das Kind sagt dann: „Du spinnst, Alter, es gibt nur Laternen, die atmen.“

Du hast ein sehr enges Verhältnis zu Kindern und viel für Kinder geschrieben, auch Sendungen gemacht. War das auch schon so, bevor du selbst Kinder hattest?

Ja, ich wollte schon immer mit Kindern arbeiten. Die grenzenlose Fantasie der Kinder spricht mich enorm an; und wenn ich für Kinder arbeite, fühle ich mich gut. Nicht als Pädagoge - ich mache eher Sachen, die die Kinder und ich auch nicht kapieren. Dieses Abenteuer, das ich auch bei meinen eigenen Kindern sehe: „Ho! Ho! In dem Käse wohnt heute ein merkwürdiges Wesen!“ - „Mama, Papa sagt, in dem Käse wohnt ein ganz merkwürdiges Wesen.“ - „Ja, das habe ich auch gesehen.“ - „Echt?“, sagen die dann: „Echt?“. - „Ja, wir essen heute keinen Käse, weü das Wesen nicht mit dem Messer umgebracht werden soll.“ Und das Kind sagt dann auch zu jemand anders: „He! Keinen Käse!“ Und das ist schön. Ein Erwachsener fragt sofort: „Was meint der? Wieso Käse? Versucht er, damit zu erklären, daß Mao jetzt gelb ist? Oder daß ein Loch im Prinzip den Käse bestätigt? Daß wir alle Mäuse sind?“ Nein, das meine ich nicht, (lacht) Ich meine nur, da ist heute ein Wesen im Käse - und das braucht man nicht zu erklären bei Kindern. Und bei Erwachsenen muß man immer erklären. Ist das leninistisch, marxistisch vorgeprüft? UndscT weiter - ach, du weißt, was ich meine.

Du hast jetzt öfters erwähnt, Großvater zu werden - auch zu sterben. Ist das Lebensende denn für dich jetzt schon sehr bewußt?

Nun, es ist ein Thema, ein Thema für Clowns. Es ist die einzige Sicherheit, die wir haben - und eine interessante Sicherheit. Die Mächte haben damit immer sehr viel spekuliert, die Kirche und die Politik: „Wenn du nicht das und das tust, dann schießen wir dich tot oder du kommst nicht in den Himmel.“ Aber das ist ein gutes Thema, nicht nur für Päpste und Politiker, auch für Clowns. Dabei ist es ein enormes Tabu. Aber wenn sich die Leute mehr damit beschäftigen würden, dann würde das Leben an Qualität gewinnen. Denn viele Leute denken, sie wurde nie sterben. Aber wenn sie sich dessen bewust waren, dann wurden sie sie sich anders verhalten, denke ich.



Fritz-Werner Haver