Rüsselsheimer Echo
Kai Schmidt

Plötzlich schrumpft die Erde zum Pingpongball

Das Gastspiel des Niederländers Herman van Veer: hielt die Zuschauer im Stadttheater in Atem

26 sept 1984

Die nukleare Katastrophe auf der Theaterbühne, locker kommentiert und perfekt inszeniert, verlangt nicht Schutt und Asche: Ein umgestürzter Kinderwagen, in dem eben noch Her-rnan van Veen kauerte, dazu ein Horrorszenario aus Licht- und Toneffekten, das scheinbar nicht enden will ~ auch so sitzt der Schock tief. Die „Signale“ des holländischen Entertainers kommen an, seine Show ist die Anklage eines Menschen, der noch nicht verbittert ist - nur manchmal sehr traurig.


' Am Samstagabend gastierte Herman van Veen im Rüsselsheimer Stadttheater, begeisterte knapp fünfhundert zumeist jugendliche Besucher im leider längst nicht ausverkauften Saal, begeisterte als Sanges-, Bewegungs- und Verkleidungskünstler. Und saß da, mit Kapitänsmütze und Offiziersjacke, lässig auf einem Stuhl und präsentierte „theater nuclear force“. In einem vulgären breiten Englisch - eins, das man nur mit einer gehörigen Portion Kaugummi zwischen den Zähnen erzielt - kündigte er den atomaren Wahnsinn an, als sei e* lediglich ein erneuter Start der Raumfähre „Discovery“: „Ten, nine, eight, seven .. .“

Das Spektakel brach ein, van Veen sprang in den Kinderwagen und die Zuschauer drückte es in die Stühle. Nach dem Desaster kam die Pause -da mochte der Sekt nicht recht schmecken.
Dar Countdown zum Atomschlag bewies es: ln Herman van Veens Händen liefen an diesem Abend die Fäden zusammen - vielmehr: er hielt d:e Erdkugel zwischen zwei Fingern. Sie war nur noch so groß wie ein Ping-Pong-Ball, leicht zu überblicken u id die Geschehnisse darauf einigermaßen kontrollierbar. Das heißt, der Künstler lenkte die Geschicke - auf der Bühne - und wir - das Auditorium - saßen drumherum und schauten zu. Als er dann etwa zehn dieser Bälle, quasi das gesamte Sonnensystem, aus den Taschen seines Trench-ci ates zauberte, vermochte es niemanden mehr zu verwundern.

„ Kunst ist abstrakt und Politik ist konkret, und beides zusammen ist . . . Panik“, meinte der Niederländer und brachte die Panik auf die Bretter, die für ihn allemal die Welt bedeuten.
Weniger in seinen Liedern, in der Mehrzahl traurig-schöne Balladen zum Zurücklehnen und Augenschließen, als vielmehr in seiner gesamten Show liegt diese „Panik“, die nichts anderes ist als das rege Treiben eines impulsiven, gefühlsbetonten All-roundkünstlers, der etwas zu sagen hat.
Der nicht auf tränengerötete Augen verzichten will, aber weiß, daß 1 rauer auf die Dauer kein Gehör findet und das Leben mit einem Lachen in den Mundwinkeln ungleich mehr Freude macht. Also: „Die Bombe fällt nie!“

Jetzt geht die Panik erst richtig los. Van Veen hat es in der Zeitung gelesen, schwarz auf weiß: „Die Bombe fällt nie.“ Grund zum Jubeln? Wohl kaum: „Hat das nicht schlimme Konsequenzen? Die Zukunft hatte bislang Grenzen, doch wenn man wieder planen kann, was fängt man mit der Zukunft an?“ Er stellt uns alles auf den Kopf, ohne es dabei recht zu machen - oder: er macht es einfach nicht so einfach: „Heißt das, es gibt doch ein Morgen, damit verbunden neue Sorgen?“

Tanz und Gesang und Theater. Und eine Menge Probleme, von denen wir eigentlich längst genug gehört haben. Das sind Herman van Veens „Signale“. Er spricht sie alle an: Ausländerfeindlichkeit, Raketenstationierung, Apartheidpolitik, Arbeitslosigkeit, Gleichberechtigung der Frau, Armut. Und jeder kauft es ihm ab. Das Publikum, das ihm am Samstag im Theater lauschte, war mit Sicherheit kein unkritisches, doch beugte es sich ausnahmslos der Faszination des Holländers. Einem Udo Lindenberg, einem Georg Danzer oder den Bots warf die Szene (vielleicht genau dieselbe) „Wellenreiterei“, Kommerz mit gerade aktuellen Themen, vor - Herman van Veens Glaubwürdigkeit ist dagegen jeden Zweifels erhaben.
Dieser Mensch sagt nicht nur was er denkt, er spricht mit dem ganzen Körper. Und so definiert er auch den Begriff „glücklich sein“: Das ist, wenn er traurig ist und dabei tanzen und singen kann. Seine Platten kann man sich kaufen und hat damit noch nicht ein Drittel seiner Kunst erworben, die er am perfektesten in seinen Slapsticks auikuiien; Der Gaukler mit der Geige kommt auf die Bühne, küßt einen weiß erleuchteten, überdimensionalen Luftballon - zunächst das einzige Requisit -, worauf dieser vor Scham errötet.

Die Show war noch keine drei Minuten alt, als der Künstler sein Publikum gewonnen hatte.
Gelobt wurden wir später, auf Englisch. Sei;, leicht zerrüttetes Verhältnis 7". den Amerikanern äußert van Ve n durch den legeren Umgang mit :hrer Sprache und Mentalität: In bestem Hollywoodstil ergötzte sich der Künstler: „You are so beautiful, you are so intelligent. . .“ - bis zum Exzeß. Er hat ihnen die angeslrebte Raketenstationierung nicht verziehen. Sein „geliebtes Vaterland“ sei so klein, wenn da jetzt noch die „Scheißraketen“ aufgestellt würden, könne man kaum noch darin laufen. Und wenn dann ein Kind einen Ball gegen eine solche Rakete träte und sie fiele um?

Die Angst scheint berechtigt, und als dann je ein Russe und ein Amerikaner auf dem Podium auftauchten, ergriff Herman van Veen die Flucht in die vierte Parkettreihe.
Mit Jacken, Schuhen und Handtaschen als Beute kehrte er zu seinen Musikern - Erik van der Wurff (Keyboards), Gees van der Laarse (Baß) und Chris Lookers (Gitarre) - zurück, um dort mit roten Stöckelschuhen und Plastikclips im Ohr eine New-Wave-Show abzuziehen.

Ein gefesseltes Publikum stand schon in den Ausgangen, klatschend;
Herman van Veen kam zur x-ten Zugabe im Bademantel zuruck

und sang "Ich lieb'dich immer noch."



Kai Schmidt