Nürnberger Nachrichten
STEFFEN RADLMAIER

Himmel und Hölle

Komischer Heiliger: Der Entertainer Herman van Veen in Nürnberg

25. November 1988

Die unendliche Geschichte des Herman van Veen beginnt, wie es sich gehört, mit dem Urknall. Oder war es doch eine apokalyptische Explosion? Eigentlich spielt das auch keine Rolle, nur eines ist klar: The Show Must Go On! Die Bühne leuchtet im schönsten Lila und schaut aus wie ein unaufgeräumtes Kinderzimmer, die Musiker fangen an zu spielen, ein Mann im Frack kommt mit verbundenen Augen hinterm Vorhang hervor, die Hand, die ihn führt, läßt er nicht los, der Arm wird lang und länger.
Dann steigt der blinde Seher von der Bühne, tastet den Zuhörern über die Köpfe, die Kontaktaufnahme funktioniert — die Erde, in diesem Fall Nürnberg, hat ihn wieder. „Bis hierher und weiter“ nennt der Entertainer aus Holland seine neue Show, die an zwei Abenden in der ausverkauften Meistersingerhalle stundenlang bejubelt wurde.


Das aktuelle Programm kann man als eine Art künstlerische Zwischenbilanz des Traumtänzers sehen. Herman van Veen erzählt eigentlich immer wieder die gleiche Geschichte, doch zum Glück fallen ihm statt einer Antwort immer neue Fragen ein. Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit sieht der mittlerweile 43jährige Allround-Künstler nun auch dem Tod ins Auge. Aber noch mehr als die Begegnung mit dem Todesboten erschreckt den melancholischen Clown die Vorstellung, ausgerechnet in Nürnberg sterben zu müssen.
Was ja irgendwie zu verstehen ist. Also übernimmt eine Herman-Puppe diese undankbare Rolle und entschwebt. Die irrwitzige Ein-Mann-Show des Philosophen mit der roten Plastiknase aber gerät immer mehr zum Welttheater, das dem vergnügten Publikum die bittere Botschaft des „Memento Mori“ wie einen Scherzartikel unterjubelt.

Selten sind dem derben Harlekin aus Holland,: der genausogern den verträumten Pierrot spielt, so schöne Bilderrätsel eingefallen wie diesmal. Die Show markiert einen neuen Höhepunkt in seiner abwechslungsreichen Karriere als Poet, Pantomime, Schauspieler, Sänger usw. Und wenn sich nicht jedes Rätsel lösen, nicht jedes Symbol erschließen läßt, dann liegt das wohl daran, daß es dem Götterboten ein teuflisches Vergnügen bereitet, das Publikum in die Irre zu führen.

Der Menschenfreund aus Utrecht, der die Traurigen fröhlich und die Fröhlichen traurig macht wie alle guten Clowns, läuft mit großen Kinderaugen durch die Welt, in der alles möglich ist. Man muß nur daran glauben. Ein Stoßgebet zum Himmel, schon saust der fehlende Kleiderbügel herunter. Zwei Frauenbeine und schon stürzt das mühsam errichtete Gedankengebäude in sich zusammen. Sicher ist, daß nichts sicher ist.
Die spielerische Leichtigkeit mit der Herman van Veen sein Verwirrspiel betreibt, läßt einen die atemberaubende Perfektion fast übersehen. Kongenial unterstützt wird er wie immer von seinem Kapellmeister Erik van der Wurff an den Keyboards, dem Bassisten Cees van der Laarse und dem Saxophonisten Nard Reijnders. Die Musik ist der rote Faden in dem Irrgarten, wo der Weg immer wieder am eigenen Spiegelbild endet. Wie ein wildgewordenes Elektron hüpft Herman van Veen zwischen Himmel und Hölle, Verzweiflung und Hoffnung, Gefühl und Verstand, Zorn und Zärtlichkeit hin und her, daß einem Hören und Sehen vergeht.
Die Lieder, die für sich genommen oft ins Sentimentale abgleiten, gewinnen im Kontext der Show einen ganz anderen Sinn. Neuerdings singt van Veen auch Texte der Pop-Poeten Heinz Rudolf Kunze und Thommie Bayer, die nicht so rührselig klingen.

Nachts um halb zwölf, naohdreieinhalb Stunden will das Publikum den komischen Heiligen immer noch nicht Weggehen lassen. Der sieht das als „Narr“ folgendermaßen: „Das hochverehrte Publikum kapiert, daß es überflüssig ist, zu klatschen, damit der Abend erfolgreich wird, und lacht absichtlich zögernd über den Narr auf der Bühne, verdient sich durch wachsende Selbstachtung das Eintrittsgeld zurück.


Der Narr erfüllte die Erwartungen, war brillant und sie nicht von sich enttäuscht.“



STEFFEN RADLMAIER