Peter Harke

»Ja« zu Momenten des Glücks:
Viel zu kurz, aber intensiv"

24. Sept 1993

Herman van Veen: Eine Ausnahmeerscheinung / Halbes Dutzend Zugaben

AHLEN. Herman van Veen lieferte selbst die Schlagzeile für diesen Bericht: „Ahlen — Momente des Glücks“, hauchte er ins Mikrofon, um im nächsten Moment das Publikum mit einem kurzen, mit der ganzen Kraft seiner Stimih-bänder ausgestoßenen „Ja!“ zusammenzucken zu lassen. Als ob es nötig gewesen wäre, die Zuhörer zu wecken. Allenfalls aus ihren Träumen.



,,Ja“ — so heißt schlicht auch das aktuelle Programm des Holländers, mit dem er jetzt seit fast zwei Jahren zwischen Flensburg und Innsbruck unterwegs ist und mehrfach schon ganz in der Nähe, zuletzt in Münster und Ibbenbüren, gastierte. Ahlen, ulkte er, habe er bis dato nie gefunden. Daß auch diese „Bildungslücke“ nunmehr endlich geschlossen werden konnte, verdankte van Veen der Kulturgesellschaft, namentlich deren Geschäftsführer Franz Jacobi, der ihn im März vergangenen Jahres,, noch ganz am Anfang der Tournee, in Hamm gesehen und sieh am nächsten Tag gleich ans Telefon gehängt hatte; üm den Gig zu verabreden.
Dankbarer noch waren gewiß die zweimal 830 Fans, die am Mittwoch und Donnerstag abend in der ausverkauften Stadthalle einen Weltstar erlebten, der trotz seines seit 20 Jahren anhaltenden Erfolges nicht abgehoben hat.

Sänger, Clown, Zauberer, Entertainer, Märchenerzähler, fliegender Holländer, sanfter Poet — die Begriffe, mit denen das Multitalent van Veen allenthalben zu fassen versucht wird, sind Legion und können doch nur unzureichend beschreiben, was diesen Künstler ausmacht. Herman van Veen ist eben einfach Herman van Veen.

,!-n diesen Zeiten der zunehmenden Bildschirm- und Trommelfellverschmutzung“, schrieb sein langjähriger Freund und deutscher Texter Thomas Woitkewitsch, „ist er mit seinen leisen Tönen eine Ausnahmeerscheinung ..

Dabei beherrscht van Veen durchaus auch das Forte, wozu ihn seine gewaltige Stimme befähigt. So wie sie ihre Farbe chamäleongleich verändert, so taucht der 48jährige, unterstützt von seinen exzellenten Musikern Erik van der Wurff (Klavier, Synthesizer) und Nard Reijnders (Saxophon, Klarinette), die Zuhörer in ein Wechselbad der Gefühle. Melancholisch, heiter, nachdenklich, zornig, traurig. Das Ganze gewürzt mit einer Prise schwarzem Humor, etwa, wenn er seiner Mama am Telefon rät, sie könne sich doch bei der Seniorengymnastik schon mal wärmlaufen für die Einäscherung . . .

Die große Pose, köstlich persifliert in einer Sinatra-Parodie, ist sein Ding nicht. Van Veen erzählt uns kleine, mal zum Lachen, mal zum Weinen anregende, oft belanglose Geschichten. Unwichtig, ob erlebt oder erfunden. Wie er seine Freundin in den’ Armen ihres Harfenlehrers (!) fand — und, darob sehr empört, gleich zu seiner anderen Freundin ging. Wovon ein Baby träumt. Von der Gründlichkeit deutscher Zollbeamter. Er stellt Fragen, die wohl jeder von uns sich so oder ähnlich schon mal gestellt hat. Warum gibt es uns überhaupt? Hat alles einen Sinn? Hat Gott eine Mutter? Kann sie auch nicht einschlafen nach der „Tagesschau“? Wenn van .Veen darauf eine Antwort liefert, dann nur die, daß auch er die Antworten nicht kennt. Denn die Welt ist nunmal leider furchtbar kompliziert. „Du weißt nicht, was du siehst; du siehst nicht, was du weißt.“

„Er hat alles drin, und es paßt irgendwie zusammen“, kommentierte eine Besucherin am Mittwoch abend in der Pause treffend. Tatsächlich fällt es schwer, sich vorzustellen, ein Udo Jürgens oder Herbert Grönemeyer könntet- eine, gefühlvolle Ballade singen uni im nächsten Moment wie ein Känguruh' über die Bühne hüpfen,-ohne daß das Publikum die Stirn runzeln würde. Van Veen darf und kann auch „nur“ albern sein, „total bescheuert“, um es mit,"feinen eigenen Worten zu sagen.

Der UNICEF-BotschSffer ist jedoch weit davon entfernt, ein oberflächlicher Gefühlshansel zu sein oder den dummen August abzugeben. Eh hat schon etwas zu sagen zu Solingen oder Jugoslawien. Aber er trägt seine Kritik an den Zuständen, die ihn % manchmal nicht schlafen lassen, nicht auf einem Schild vor sich her. Der Zeigefinger bleibt unten, tippt allenfalls vor die eigene Stirn. v Und noch etwas ist anders in seinen Konzerten: Der Verzicht auf das Ab-' singen von Hits. Doch um ein paar Zu-' gaben kommt er natürlich nicht herum. Ein halbes Dutzend erklatscht sich das Publikum —- oder das, was von ihm ühriggeblieben ist, denn viele verlassen voreilig die Halle, hören das Trommelsölo und das in van Veens Muttersprache — dpr „schönsten Sprache der Welt“ — gesungene Weihnachtslied nicht mehr. Zum Schluß, es ist kurz vor halb zwölf, sind vielleicht noch hundert, hundertfünf-zig Leute im inzwischen hell erleuchteten Saal, die Musiker haben sich schon umgezogen, van Veen gibt mit ernster Miene die neuesten Nachrichten aus Moskau weiter, und das Konzert, von Beginn an kein „Der-da-oben-wir-hier-unten“-Erlebnis, bekommt den Charakter einer privaten Feier. Mit „Kleiner Fratz“ verabschiedet sich Herman van Veen endgültig.

Es bleibt ein „zärtliches Gefühl“ — und die Gewißheit:

Dieser Abend war ganz gewiß kein „Griff ins Klo“. /



PETER HARKE