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Ulla Waag

Herman van Veen und Harry Sacksioni jetzt auf getrennten Wegen

Mit abgeknickten Zeigefinger

20 apr 1979

Acht Jahre lang Zusammenspiel live und bei Schallplatten-Produktionen - von nun an Freunde auf getrennten Tourneewegen: Hollands beliebtester Entertainer, Sänger, Clown, Pantomime Herman van Veen und sein heimlicher Co-Star, der Gitarrist Harry Sacksioni. Am 30. September Harry Sacksioni zum ersten Mal mit eigener Gruppe auf Deutschlandtournee im Quartier Latin und am 10. Oktober Herman van Veen mit neuer Show im ICC. Man darf gespannt darauf sein, was diese beiden Klinstler in ihrer neuen Situation geschaffen haben.


Harry Sacksioni über die Trennung von Herman van Veen: "Während dieser 8 Jahre mit Herman habe ich sehr viel gelernt, aber bei den Auftritten hatte ich immer das Gefühl, nur die'Hälfte von dem, was in mir steckt geben zu können." Er hat viel geschrieben, wie die Titelmusik zu dem gemeinsamen Film, die Musik für eine Bühneninszenierung, eine Komposition für ein Mandolinenorchester und Musik für verschiedene Künstler in Holland und für seine Schallplatten. "Also habe ich Herman Anfang dieses Jahres gesagt, daß ich alleine weitermachen muß, .o.as er natürlich verstanden und akzeptiert hat." Drei Monate sind sie noch zusammen aufgetreten. "Von Mal zu Mal wurde es immer trauriger. Bei der letzten Vorstellung lagen wir uns am Schluß in den Armen und haben nur noch geheult."

Die Zusammenarbeit mit Herman geht weiter: "Wir machen ein Musical, und ich schreibe für seine Shows, und wir bleiben Freunde."
Zur Person und zu seinem Publikum sagt er: "Ich will, daß die Menschen bei meinem Spiel etwas mit mir zusammen fühlen, vielleicht eine Art Verwandtschaft, aber ich will es nicht mit Worten ausdrücken, weil Worte so leicht zu Mißverständnissen führen."
Harrys Zweifel über die Vermittlungsmöglichkeiten von Gedanken, Erfahrungen und Gefühlen teilt sein Publikum sicher nicht. Das konnte man bei einem Solo-Auftritt Anfang September im Folkpub deutlich spüren. Bei den Elektronikklängen von dem Stück "1984" zum Beispiel, geschrieben nach George Orwells gleichnamigen Buch, hatte wohl jedermann die kontrollierten Marionetten vor Augen, und so mancher mag sich, wie Harry auch gefragt haben, wie lange es noch dauert, bis wir soweit sind.

Im Quartier Latin wird Harry Sacksioni begleitet von Geige, Baß, Flöte, Saxophon, Banjo und Mandoline und das ganze wird untermalt mit projezierten Filmen.

Sich Herman van Veen als Konservatoriumsstudent für Geige und Gesang vorzustellen, fällt heute schwer. Dank einer Vision vom blutleeren, frühalten Geiger gibt es nun seit mehr als 10 Jahren seine Bühnenshows, deren Motto ist: Irritieren mit Inspiration, Umdenken durch Andersdenken und Unterhaltung, Manifeste niemals zum Selbstzweck werden lassen, Warnen mit abgeknicktem Zeigefinger.

Während dieser Jahre fanden außerdem statt: Rezitationen auf holländischen Kleinkunstbühnen, satirisches Theater in Utrecht, Ernennung zum Ambassadeur für UNICEF, Gründung von "Harlekin Holland", einer Organisation zur Förderung von jungen talentierten Malern, Musikern und Schauspielern, Film- und Fernseharbeit, darunter drei TV-Shows und eine Kinderserie (wird gerade wiederholt ausgestrahlt) fürs deutsche Publikum, Regiearbeit bei verschiedenen Theaterproduktionen, fünf Bücher und 20 LP*-".

Die Vorstellungen des vielseitigen Herman sind jedenfalls nichts für Entspannungssuchende am Feierabend. Hat man sich gerade von einem, mit der ihm eigenen Intensität vorgetragenen Liebeslied hinreißen lassen, kommt ganz am Schluß noch schnell die Zeile "und vielleicht ist alles für die Katz" - da bleibt die sanfte Stimmung am Widerhaken hängen.

Aber nicht nur Zwischenmenschliches bei Mann und Frau wird besungen, sondern auch der Richter, dessen linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, oder das Kind, das stolz wie ein König auf seinem Fahrrad die Welt erobert, und er bekennt sich zu den Ausgeflippten, Spinnern, Träumern und den Sprachlosen.

Herman van Veen sagt grundsätzlich zu seiner Arbeit auf der Bühne: "Mein Pro- gramm besteht zu 80 Prozent aus Fragenstellen, Fragen de- ren Antwort ich weder weiß noch ahne. Wenn ich die Antwort nicht kenne, spiele ich mit der Angst und dem Glauben, Glauben ist für mich eine sichere Unsicherheit, et- was, was nun mal dazugehört und die Mühe des Lebens wertmacht."



Ulla Waag