Deutsche Volkszeitung
Sylvia Brecht-Pukallus



"Ich kann es mir nicht leisten, dazu geschwiegen zu haben"

16 nov 1984

Sylvia Brecht-Pukallus sprach mit Herman van Veen

Mit "Signale" ist der holländische Liedermacher, Autor, Komponist, Clown, Schauspieler und Tänzer Herman van Veen, bis zum 12. Dezember dieses Jahres auf Tournee durch die Bundesrepublik. Die dreistündige Vorstellung thematisiert das Verhältnis von Kunst und Politik, die persönliche Entscheidung zwischen Anpassung und Widerstand und ist eine leidenschaftliche Parteinahme des vielseitigen Künstlers für den Frieden und die Verständigung zwischen den Menschen. Im Rahmen seines viertägigen Gastspiels in Düsseldorf hatten Sylvia Brecht-Pukallus und Beate Knappe Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit Herman van Veen. Die folgenden Fragen stellen die Kernpunkte des von Sylvia Brecht-Pukallus geführten Interviews dar.


SYLVIA BRECHT-PUKALLUS: Du beginnst dein Programm mit einem in holländischer Sprache gesungenen Lied, das erste deutsche Lied des gestrigen Abends war "Die Bombe fällt nie". Was steht hinter dieser Entscheidung?
HERMAN VAN VEEN: Daß ich mit einem holländischen Lied anfange, ist einfach zu erklären - ich bin Holländer. "Die Bombe fällt nie" ist der erste deutschsprachige Beitrag, weil um dieses Thema im Grunde genommen meine ganze Vorstellung geht. Sie geht darum, daß wir in einer so tragischen Realität leben, daß wir eine Situation geschaffen haben, in der wir nicht über die Zukunft sprechen können. Das Lied ist eine Art Hypothese, daß wir nach der Beseitigung der Bedrohung vor einem viel größeren Problem stehen werden: Dann müssen wir vernünftig darüber nachdenken, was wir mit unserer Zukunft anfangen. Jetzt brauchen wir das nicht, wir können einfach eine Art unrealistischer Realität miteinander teilen. Ich fange mit einem explizit politischen Lied an, weil ein Clown die Situation nicht mehr clownesk wiedergeben kann. Menschen machen Fehler, und wir werden wieder Fehler machen, aber genau das können wir uns in dieser Gesellschaft nicht mehr lei sten. Denn dann knallt alles auseinander. Das ist eine so ungeheure Ironie, daß ein Clown nicht darauf verzichten kann. Ich sehe das als eine Art Verantwortlichkeit.

Parallel zum Thema Kriegsgefahr dramatisierst du in deiner Vorstellung die scheinbar privaten Beziehungen der Menschen zueinander. Du singst von einer Frau, die an der Enge ihrer Ehe langsam zugrunde geht, und zeigst einen Vater, dessen Rolle sich auf die des Besuchers mit unangemessenen Geschenken reduziert. Welchen Bezug gibt es für dich zwischen diesem "privaten" Bereich und der Politik?
HERMAN VAN VEEN: Ich denke, daß Politik zu Hause gemacht wird. Ich meine, was sich unter vier Augen abspielt und verschwiegen wird, dieses zum Teil katastrophale Unterbewußtsein stellt fast eine größere Bedrohung dar als die Rüstung. Der Mann in meiner Geschichte ist ein amerikanischer Militär, kommt zurück von einer Geschäftsreise, hat für sein Kind einen wahnsinnsgroßen Bären gekauft, hat aber keine Zeit, mit dem Baby zu spielen. Er legt den Riesenbär auf den Kinderwagen und erstickt das Baby. So geht er meiner Auffassung nach mit seiner gesamten Umwelt um.
Was dort in einem Mikrokosmos geschieht, spielt sich im großen ebenso ab.
Wenn du mich fragst, wo liegt Ohio, muß ich dreimal nachdenken. Wenn man einen Amerikaner, Russen oder Afrikaner fragt, wo Hegt Scherpenzeel in Holland, dann weiß er das nicht. Aber er weiß auch nicht, daß dort eine sehr nette Bauernfamilie wohnt. Ein Militär aus diesen Ländern kann vielleicht sagen: "Ja, die kenn ich nicht. Das ijt militärisches Gebiet, also weg damit." Man kann nur Menschen etwas antun, die man nicht kennt. Wenn man etwas kennt, trägt man Verantwortung dafür. Wenn man weiß, wie schön ein Baby ist oder wie schön Menschen sind, dann traut man sich das nicht so.

Meine positive Einstellung liegt darin, daß ich fest daran glaube und mitzuwirken versuche, daß wir voneinander wissen müssen. Und je besser wir uns kennen, um so weniger werden wir einander bedrohen.
Aber es gibt Leute, die dazwischenstehen. Elin ghanesischer Botschafter hat mir einmal eine Geschichte er zählt Als Gott die Welt erschaffen hatte, hat er drei Leute eingeladen, einen schwarzen, einen gelben und einen weißen Mann, und gesagt: Guckt mal, da liegt die Welt. Schwarzer Mann, welches Gebiet willst du? Der hat geantwortet: Ich will ein bißchen Sonne, ein bißchen Wald, ein bißchen von dem und dem, und Gott hat ihm Afrika gegeben. Eier schwarze Mann ging weg. Der Chinese hat dann Asien gewählt, und der weiße Mann hat sich bei Gott nach den Adressen der beiden anderen erkundigt. Die Zwischenhändler, das Geschäft, die bringen uns um. Es gibt Leute, die lernt man erst morgens um fünf an der Bar kennen.
Vorher kann man sie nicht kennenlernen, weil sie in ein solches System von Darum-Warum-Darum verstrickt sind, daß man erst um diese Uhrzeit, wenn sie vierundzwanzig Cointreaux getrunken haben, den Vater hinter dem Mann erkennen kann. Der sitzt dann genauso alleine da, und ihm wird auf einmal bewußt, daß sein Sohn schon achtzehn ist und nicht zum Militärdienst will. Er fragt sich, was mit ihm los ist, was er falsch gemacht hat. Er hat erst nach achtzehn Jahren entdeckt, daß der Junge eine Seele und einen Geist hat. Das versuche ich andauernd, auf eine unterhaltsame Weise deutlich zu machen.

Wie schätzt du dein Publikum ein? Du übst massive Kritik an bundesdeutschen Verhältnissen, etwa in "Die Bewerbung", wo du auf beklemmende Weise einen ausländischen Arbeitslosen auf Stellungssuche vorführst. Du hast in deinem Programm ein Lied aus dem deutschen antifaschistischen Widerstand, "Mein Vater wird gesucht", ohne die Herkunft des Liedes zu benennen. Überschätzt du damit nicht dein Publikum? Und wie läßt es sich erklären, daß es dich trotz streckenweise recht massiver Publikumsschelte so bejubelt?
HERMAN VAN VEEN: Ich glaube, das hat wieder mit dem Unterbewußtsein zu tun. Wir sprechen die Leute auf einer Ebene an, daß sie sich an vielen Stellen sehr befreit fühlen. Sie können sich gut mit den Texten identifizieren. Ich verarsche die Leute ja nicht.
Ich nehme sie mit in ein Erlebnis, und zu ihrem eigenen Erstaunen sind sie eigentlich völlig mit dem einverstanden, was dann passiert. Das Lied "Mein Vater wird gesucht", das ich übrigens in der DDR geschenkt bekommen habe, singe ich einfach, weil es auch für Argentinien gilt. Es gilt für alle unterdrückten Länder. Man darf das nicht unter den Teppich kehren lassen, man muß es andauernd sagen, aber auf eine Weise, die die Leute stärker macht in ihrem Verantwortungsgefühl. Sie dürfen das nicht weglachen.

Jedenfalls besteht ein großer Unterschied. dazwischen, dich auf Platte zu hören und dich live zu sehen.
HERMAN VAN VEEN: Was man auf Platte hören kann, hinkt der aktuellen Entwicklung immer hinterher. Das kann zwei, drei oder zehn Jahre zurückliegen. Ich glaube aber, viele Leute besuchen die Vorstellungen, weil sie wissen, daß sich laufend etwas verändert, nicht dem Wesen nach, wohl aber in entscheidenden Klärungsprozessen. Ich war immer sehr politisch. Wenn ich einen Platte mit zehn Stücken mache, dann wählt ein Discjockey oder ein Redakteur ein Stück aus, a), weü er das vielleicht schön findet, aber b), weü er das aufle- gen darf. Man muß sehr wohl verstehen, daß ein Künstler in der Öffentlichkeit als das existiert, was man von ihm zuläßt...
Ich bin Anthroposoph vielleicht oder Humanist. Ich habe wenig mit Ismen zu tun, weü ich glaube, daß das alles Sackgassen sind. Ob Gott, Christus, Teufel, Kommunismus, Kapitalismus, nach meiner festen Überzeugung sind das alles Sackgassen. Ich glaube an das Lernen, an Veränderungen, Erfahrungen, Austausch, Voneinanderwissen, an Öffentlichkeit. Alles muß besprechbar sein. Man muß nicht für mich denken. Ich kann das selber. Alles ist heute so organisiert, daß eine menschliche Entscheidung kurzfristig nichts mehr vermag. Man kann sagen "Raketen müssen weg". Die müssen wirklich weg, und dann kommt die wirkliche Macht, die Bürokratie. Es gibt Macht hinter Macht, hinter Macht. Und das muß demystifi- ziert werden, bis man es abgebaut hat.

Trotzdem rufst du dazu auf, gegen die Raketenstationierung aktiv zu werden
HERMAN VAN VEEN: Natürlich. Man muß so laut wie möglich dagegen protestieren. Jeder Mensch weiß, was gut ist. Aber noch kann jeder Mensch mit seiner Angst so behaglich leben, daß unser Bewußtsein verschüttet wird. Wir haben gelernt, mit der Angst zu leben. Was müssen wir tun, wenn wir keine Angst mehr haben? Was muß ich zu dir als Frau auf einmal sagen, wenn die Wand zwischen uns verschwunden ist? Das haben wir nie gelernt. Wir haben in der Schule als Jungs nie gelernt, wie man ein Baby versorgt! Wir haben gelernt, wieviel 48 + 23 ist. Du kannst mir also böse sein, wenn ich das alles viel schlechter kann als meine Frau. Aber wir haben es nie gelernt.

Ich war ein dummer Junge! Ich habe immer Krach gehabt in der Schule, weil ich immer mehr von dem Baum wußte, der da stand, von seiner Farbe, seiner Beschaffenheit. Ich wußte nicht, was x-mal soundsoviel ist, aber ich konnte viel von dem Baum erzählen. Nur hat mich niemand nach dem Baum gefragt! Oder ich konnte viel von dem Kardinal erzählen. Ich besuchte die Montessori-Schule, und nebenan lief immer ein Kardinal mit seiner Bibel herum. Der hat einen Garten gehabt! So einen großen Garten! Und wir hatten mit fünfhundert Kindern keine 100 Quadratmeter, wo wir spielen konnten. Und dann hat er auch noch eine Mauer mit Glasscherben errichtet. Der Kardinal war übrigens in der katholischen Kirche als ein sehr demokratischer Würdenträger bekannt ...
Da sitzt man dann als Kind - und ich komme aus einer sozialistischen Familie, aus so einem winzigen Haus mit so einem winzigen Garten, alles klein - da sitzt man da und kapiert einfach nicht, warum dieser einzelne Mann mit seinem Buch so leben kann.
Das Gefühl von Unrecht hat mich immer gezwungen, das zu tun, was ich tue. Den Schlemihl zu spielen. Und je älter ich werde, um so klarer und deutlicher wird das. Wenn man also von dem politischen van Veen spricht, den hat es immer gegeben. Aber es war mir selbst nicht so klar, also wie hätte es dem Publikum klar sein sollen? Langsam fängt das an, sehr deutlichen Ausdruck zu finden in einer Art Umarmung, weil eine Melodie alle Grenzen überschreitet, und das muß so bleiben. Das ist meine Freiheit, Freiheit ist, keine Angst zu haben.

Neben dem ständigen Wechsel zwischen dem poetischen und dem explizit politischen Herman van Veen: ist mir in der Vorstellung das ständige Hin und Her zwischen Clownerie und Tragik aufgefallen. Kaum will man befreit auflachen, kippt das Ganze ins Tragische, kaum ist es bitterernst geworden, treten wieder komische Elemente ein. Was ist der Sinn dieses Wechselbades?
HERMAN VAN VEEN: Der Sinn ist eine Art Realitätswahmehmung. Ich Mann-Frau-Gefühle um. Ich bin an einem solchen Abend kein Mann mehr, ich bin keine Frau, deshalb spreche ich von Herman van Veen iteelf. Ich versuche einfach, mich auf alle Ebenen zu begeben, wie ein Vogel, daß man sagt: "Mensch, was macht er jetzt? Oh! Ah!" Das ist schön, das macht vieles klar, weil wir das alle in uns haben.

Eines der Hauptthemen deiner Vorstellung ist das Verhältnis zwischen Politik und Kunst. Wie siehst du deine Rolle in diesem Spannungsfeld?
HERMAN VAN VEEN: Ich sehe mich als eine Art Seiltänzer. Ich habe einmal geschrieben, daß ich ein Seil gespannt habe zwischen Realität und Traum, und merkwürdigerweise hält dieses Seil, so unmöglich es auch scheint. Das ist meine Position: Ich bin ein Kommunikator. Ich versuche ständig, die Menschen aus den verschiedenen politischen Systemen einander vorzuführen. Es gibt keinen Bauern in den Vereinigten Staaten, der einen Bauern aus der Sowjetunion umbringen will. Den gibt es nicht. Den gibt es einfach nicht. Die wollen einander über ihre Arbeit fragen. "Wie machst du das denn?" - das wollen die wissen. Aber es gibt Wände zwischen ihnen, die es beiden unmöglich machen. Wir müssen versuchen, uns über einen Umweg zu erreichen; die Kunst wäre ein solcher Weg. Kunst vergrößert und verkleinert Realitäten, macht sie klarer oder undeutlicher, bewußt undeutlicher. Kunst ist frei. Ihre Aufgabe ist es, voranzupreschen, immer wieder Dinge in Frage zu stellen, andauernd ) Dinge in Frage zu stellen ...

Deine Tournee fällt in die Zeit der Aktionen zum Friedensherbst 84. Wie siehst du deine Vorstellungen in diesem Umfeld?
HERMAN VAN VEEN: Ich sehe meine Tournee fast als eine private Bewegung. Die Vorstellung heißt ja auch "Signale". Ich habe in Holland ein paarmal bei den Riesendemonstrationen mitgemacht, und ich glaube, daß die außerparlamentarische, explosionsartige Bewegung ihren Zweck erfüllt hat. Sie hat den Ansatz geliefert, denn das kenne ich am besten - eine enorme Bewußtseinsentwicklung bewirkt hat. In Holland stehen die Raketen immer noch nicht, das hat alles damit zu tun. Ob sie kommen? Wenn es nach mir geht, kommen sie nicht.

Ich habe in Schwäbisch Gmünd gespielt. Das ist eine Erfahrung, von der ich fast Gänsehaut kriege. Ich habe noch nie ein Publikum gehabt, das mit soviel Angst lebt. Die wohnen neben den Raketen. Die haben auf die Vorstellung auf eine Art und Weise reagiert, die unbeschreiblich ist. Nicht mit Lärm, sondern mit Stille. Das konnte man fast berühren. Ich bedaure alle Menschen in der Welt, die neben dieser Bedrohung leben müssen, ob im Osten oder Westen.
In dieser Hinsicht haben wir die unzivilisierteste Gesellschaft, die es je gegeben hat. Wir haben Massenarbeitslosigkeit, aber das war schon lange vorauszusehen. Man kann heute auch über das Waldsterben nicht sagen "Wir haben es nicht gewußt". Der Preis, der zu zahlen ist - und an diesem Punkt werde ich dann unheimlich aggressiv - wird immer bezahlt durch unschuldige Schlachtopfer, Erwachsene und Kinder, Menschen in der 3. Welt. Der Preis heißt Krebs, oder Gott weiß was, Leute erkranken von einem Tag auf den anderen plötzlich an Leukämie, drei Viertel unserer Welt hungern und zahlen den Preis für unseren Wohlstand, ob in den sozialistischen oder in unseren Ländern.

Wir haben einen Wohlstand, den wir uns nicht leisten können, der wird bezahlt durch eine schweigende Mehrheit, die nicht mehr die Kraft besitzt, sich dagegen zu wehren. Deshalb bin ich sehr aktiv für Unicef und viele andere Organisationen. Ich weiß, welche Bedenken es gegen die Wirksamkeit solcher Institutionen gibt.
Aber soweit mein Blick reicht und ich das in meiner kleinen Welt sehen kann und mitverantwortlich bin für das, was ich sehe und erfahre, habe ich einfach die Pflicht, mich mitzuteilen. Ob das perfekt, dilettantisch oder genial ist, ist mir gleichgültig.

Es geht darum, daß ich es sage.
Uber das Niveau können die Leute entscheiden.
Aber ich muß es gesagt habe.

Ich kann es mir nicht leisten, dazu geschwiegen zu haben. .