Abendzeitung
Thomas Veszelits

Der liebe Gott ist sicher eine alte Frau

16. Oktober 1975

Show-Sänger Herman van Veen kommt nach München

Hollands Show-Export erobert Deutschland. Der Sänger, Geiger, Kabarettist und Clown Herman van Veen (30) trifft bei seiner zweiten Deutschland-Tournee überall ausverkaufte Säle. Mit ihm kommt eine neue Art von Unterhaltung: Humor ohne Blödelei, ehrliche Naivität und anspruchsvolle Poesie. Seine Nummern werden von einer Band begleitet, die fast so einfallsreiche Musik macht wie einst die Beatles. Nach 150 Vorstellungen im Amsterdamer Theater "Carre" gastiert Herman van Veen - AZ-Stern des Jahres 1974 - am Freitag im Münchner Theater in der Brienner Straße.



Das Programm heißt "Wunder was".

Er bewegt sich wie eine Puppe, zuckt marionettenhaft mit den Armen und ist ein Spinner. So kam ihm auch die Idee, daß der liebe Herrgott eigentlich eine alte Frau sein könnte. "Ich habe für Omis eine Schwäche, sie haben einen überwältigend zärtlichen Gesichtsausdruck", sagt Herman van Veen. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß Gott eine junge, hübsche Frau sein könnte." Van Veen ist im übrigen ein Gläubiger.

Auf der Suche nach dem "kürzesten Weg von Herz zu Herz" grübelt er gern. Uber die Welt poetisch und politisch, über die Menschen skurril und skeptisch, über sich selbst lustig und albern. "Wäre ich Franz Beckenbauer, dann möchte ich immer in Zeitlupe bleiben", witzelt er.
Zum Show-Metier kam er von der klassischen Musik. Der akademisch ausgebildete Geiger und Sänger van Veen sang früher in Konzerten bis zur Pause Schuberts Liederzyklus "Winterreise", und dann spielte er Bachs Geigenpartiten. "Das war schon ein Kabarett", meint van Veen. Die Sachen anders zu sehen als sie sind wurde zu seiner Inspirationsquelle.

Seine Karriere fing vor acht Jahren mit einer Tingelel an - heute ist er Leiter der Künstleragentur "Harlekin". Sie wird von ihm nach sozialistischem Modell geführt. Alles, was er und seine Künstler verdienen, fließt in eine Gemeinschaftskasse, und der Kassenrenner van Veen bezieht lediglich ein Direktorengehalt.

"Harlekin" gibt eine Zeitschrift heraus, finanziert Musiker und Entertainer, organisiert Theaterauftritte und fördert Talente. Herman van Veen ist der Star dieser Gruppe, "aber ich möchte nicht reich werden". Diesem Grundsatz paßt er auch seinen Lebensstil an. Trotz steigender Plattenumsätze bewohnt er ein einfaches Haus und züchtet Kaninchen und Hühner.
Obwohl sein Ziel die Unterhaltung ist, stimmt er auch kritische Töne an, doch sie machen aus ihm keinen Protestsänger. Dazu ist er ein viel zu melancholischer Träumer mit der Vorliebe für das Absurde:

"Wir nehmen unsere Sonne überall mit, hängen sie über der Bühne auf. Vielleicht schießen wir sie eines Tages kaputt und werden fürchterlich weinen."



Thomas Veszelits