Darmstäter Echo
Petra Neumann-Prystaj

Musik und Tanz unter der Bombe

Ein Abend mit Herman van Veen in der Darmstädter Kongreßhalle

16 apr 1984

Die Bombe fällt nie. Auf jedem zweiten Sitzplatz in der Kongreßhalle liegt eine dünne Zeitung mit dieser Schlagzeile. Was soll das nun wieder bedeuten? Werbung? Aber wofür - oder wogegen?


Schon sind die Zuschauer mittendrin in Hermann van Veens eigenwilliger Show, deren Reiz die zahllosen Irritationen ausmachen. Van Veen, wie immer ganz in Weiß, glänzende Glatze, umrahmt von kringelndem Blondhaar, liest die Zeitung auf der Bühne und grübelt. Singend natürlich. "Die Zukunft hatte bislang Grenzen, doch wenn man wieder planen kann, was fängt man mit der Zukunft an?" Ein neuer Denkhorizont tut sich auf: Wie stark ist unser Leben von der wahrscheinlichen totalen Zerstörung der Erde bestimmt?

Doch die Zeitungsnachricht ist zu schön, um wahr zu sein. Die Bombe fällt doch - als akustisches Inferno vor der Pause. Rührend und lächerlich zugleich, daß sich van Veen davor in einen Kinderwagen flüchtet.
Der Irrwitz von Krieg und Aufrüstung ist ein Thema, das er in immer neue Sketche kleidet. Beim Darmstädter Publikum rannte der 39 Jahre alte Friedensstreiter aus Holland da mit am Samstag (eine zweite Vorstellung folgte am Sonntag) offene Türen ein.

Das diesjährige Toumeeprogramm "Signale" setzt sich zusammen aus Szenen und Liedern von verlorener Hoffnung und Liebe, von Menschen in Sackgassen-Situationen, in die sie andere Menschen gebracht haben. Van Veen erzählt und singt von der Frau, die in der Ehe verkümmert, und ihre Persönlichkeit verlor. Er ist der stellensuchende Arbeitslose, der sich nur durch Arbeit seine Existenz beweisen kann - und nicht allein durch den morgendlichen Blick in den Rasierspiegel. Er sucht Zärtlichkeit bei einem Mann - und wird für seine Liebkosungen mit Geld abgespeist.

Als wartender Bräutigam vertreibt er sich tanzend mit "Sweet Georgia Brown" die Zeit und merkt gar nicht, daß die Braut vor ihm steht: ein Mann in weißem Anzug und weißem Zylinder. Da staunt das Publikum - und goutiert's. Doch so gut der Pantomime und hin- tergründelnde, gegen gesellschaftliche Tabus anrennende Kabarettist van Veen auch sein mag - der Sänger und Instrumentalist van Veen übertrumpft ihn. Da gehen die Herzen über und die Ohren auf, wenn er zur Geige greift, das Klavier in Stimmung bringt (auch mit Fuß und Po) und seinen Stimmbändern Töne entlockt, die nicht von dieser Welt scheinen.

Dem akrobatischen Aktionskünstler mit dem verblüffenden Gesichter-Re- pertoire zollt man Achtungsbeifall, doch für den Musiker klatscht man sich die Hände warm und lahm.

Van Veen ist in allen Musikrichtungen zu Hause, in der Klassik, im Chanson, im Rock und Blues. Die Bombe wurde nebensächlich, als er und seine vorzüglichen Musiker den totalen Blues rausließen: Erik van der Wurff (Klavier, Synthesizers), der neue Mann Chris Lookers (Gitarre), Nard Reijnders (Saxophon, Klarinette, Akkordeon) und Cees van der Laarse (Baßgitarre, Kontrabaß). Musik und Tanz sind für van Veen mit Glück identisch. Er phantasiert sich einen Musikschirm der schönsten Melodien über sein zwischen den politischen Machtblöcken liegendes Vaterland Holland und träumt laut vor sich hin: Was wäre, wenn Krieg ist und keiner geht hin - weil die Musik so schön ist?

Musik statt Bombe - typisch van Veen.



Petra Neumann-Prystaj