Frankfurter Allgemeine
ADOLF FINK

Orpheus in der Clownsrolle

Hermann van Veen in der Alten Oper

15 dez 1981

Herman van Veen gehört zu jenen, deren kontinuierlicher Erfolg in Konzertsälen, Theatern und Medien den alten Verdacht nährt, daß Kleinkunst in Deutschland vorzüglich ein Importgut ist, das sich zudem gefallen lassen muß, in der übel beleumundeten Unterhaltungssparte geführt zu werden.


Der Holländer kann solch gewichtige Qualitäten vorweisen, wie sie den heimischen Akteuren oft abgehen: Begabung und musikalisches Können, Witz und verbale Originalität, Selbstironie und emotionales Engagement. Er beherrscht die Gesetze der Bühne, nicht sie ihn, weil er entschiedene Distanz zu wahren weiß. Er ist, wie es in einem seiner Lieder heißt, „kein General“, „kein Kardinal“, nicht einmal in erster Linie ein „Stimmenfänger“ für die eigene Karrierekür, sondern ein Harlekin, der mit aller Virtuosität der Beine und des Kehlkopfes, des Gesichts und der Finger uns das Glück des Stolpems vor Augen und Ohr führt. Er inszeniert keine falsche Unmittelbarkeit, entsagt fataler Vertraulichkeit mit dem Publikum, versteht statt dessen immer wieder aufs neue und in veränderter Weise, den Mantel des Scheins ein wenig zu lüpfen, um den Blick auf dessen Gegenteil freizugeben. Kurzum, er' agiert als ein Magier im aufklärerischen Sinne: Er be- und entzaubert zugleich.

Der heute Sechsunddreißigjährige hat am Utrechter Konservatorium Gesang und Geige studiert und abgeschlossen; er arbeitet seit rund fünfzehn Jahren im Schaugeschäft. Wenn er gleich zu Beginn, reisstreuend, irgendwo im Auditorium auftaucht, sieht und spürt der Zuschauer, daß der Harlekin für ihn nicht allein eine Rolle, sondern eine Selbstinterpretation darstellt: die schlanke Gestalt, die weitbeinig weißen Hosen und das gleichfarbig kurzärmelige Hemd, die Art, wie er zur Begrüßung und zum Dank seinen schütteren Haar- als Lorbeerkranz dem Publikum entgegenstreckt. Hier hat sich jemand entschlossen, aus dem schönen Bild des Scheins aus- und in eine kontroverse Realität einzutreten.

Sein Programm besteht aus einer reizvollen Mischung von Liedern und Rezitationen, aus Pantomimen und Sketches, Parodien, Slap- und anderen Sticks. Erst alles zusammen vermittelt einen angemessenen Eindruck dieses Mannes, dessen lachend-weinende Züge durch all seine Gesichter hindurchschimmern. Seine Texte, die er, wie die Musik, meist selbst schreibt, wirken beim bloßen Lesen (sie sind vor kurzem unter dem Titel „Worauf warten wir?" als Taschenbuch erschienen) eher nachlässig auf das Papier gebracht, (zu) sorglos im Umgang mit den Reimen, bisweilen arg sentimental in ihrer Dramatik.
Doch sobald er sie singt, mit den Mitteln seiner Gestik und Mimik begleitet, gewinnen sie eine lebendig überzeugende Gestalt. Dann bilden sie mit seinen frechen, bald blasphemisch-obszönen, bald nachdenklich-melancholischen Szenen eine spannungsvolle Einheit. In beiden unterschiedlichen Darstellungsformen geht es um den Alltag und seine Geschiehte(n), um das Verhältnis der Menschen, der Liebenden, zueinander, um die geheim-offenbaren Korrespondenzen innerer und äußerer Wirklichkeit.

Er dokumentiert jenes „zärtliche Gefühl“, das er hegt, „für jeden Nichtsnutz, jeden Kerl,/der frei umherzieht ohne Ziel,/der niemands Knecht ist, niemands Herr“. Er ist selbst jener, „der, wenn sein Traum die Wahrheit trifft,/noch lachen kann — wenn auch zu laut“. Er entdeckt die versteckte Komik unserer Welt, und seinem Lachen haftet stets etwas von existentiellem Trotz und menschlicher Souveränität an.
Er bleibt, Orpheus in der Clownsrolle, damit beschäftigt, die besänftigende und harmonisierende Wirkung seiner Stimme durch Ungebärdigkeit und Aggressivität seines sonstigen Tuns zu konterkarieren. Seine Kreativität entzündet sich an der Widersprüchlichkeit unseres Lebens, die er nicht zugunsten einer bestimmten Eindeutigkeit zu schlichten sucht und von der er erstaunlich viel in seinen Songs und Szenen unterbringt, ohne deren jeweilige Gattungsgrenzen zu verletzen.

Die Veranstaltung in der Alten Oper beendete vorläufig seine ausgedehnte Deutschland-Tournee, die bisher schon mehr als fünfzig Stationen aufzuweisen hat.



ADOLF FINK