Ausburger Allgemeine
Lilo Murr

Herman van Veen — ein Künstler durch und durch

„Ich hab' ein zärtliches Gefühl.. "

12. Mai 1989

„Ich hab' ein zärtliches Gefühl für jeden Nichtsnutz, jeden Kerl, der frei umherzieht ohne Ziel, der niemands Knecht ist, nie-mands Herr." Mit verbundenen Augen betrat Herman van Veen die Bühne, tastete sich ins Publikum, griff nach Haaren, nach Händen, nach Gesichtern, roch dann an seinen Fingern und sagte mit zärtlicher Stimme: „Augsburg". Ja. Für zwei Abende kam er nach einer fünfjährigen Pause in die Fuggerstadt, um sein neuestes Programm „Bis hierher und weiter" vorzustellen.

Auf der Bühne bot sich ein bizarres Bild.
In dunkelviolettes Licht getaucht lag da ein riesengroßer Ball, daneben hohe Kästen, ein blattloser Strauch, eine transparente Wand, dahinter ein Kreuz, ganz oben ein Regenschirmgestänge.

Herman van Veen ist Clown, Entertainer, Sänger, Tänzer und Geschichtenerzähler. Es dauert nur Minuten, bis der Holländer das Publikum in seinen Bann gezogen hat. Herman van Veen glaubt an die Veränder-barkeit der Welt. Dieses Denken zieht sich durch alle seine Lieder. Die Hoffnungsträger sind die Kinder. In sie ist der 44jährige vierfache Vater vernarrt.

Im Gegensatz zu seinen bisherigen Konzerten bekam man diesmal auch Einblick in das Privatleben der Familie van Veen. Da gibt es ein Telefongespräch (das Mikrofon wird kurzfristig ein Hörer) mit dem Sohn, die Probleme gleichen sich anscheinend auf der ganzen Welt. Fernsehkonsum, nörgelnde Mutter, mitmischende Großmutter.

Neben dem verträumten, stillen und sanften Pierrot gab es in der Kongreßhalle auch den derben Entertainer. „God bless America", eine Abrechnung mit dem Entertainment in den USA, „Konzert ist wie Liebe machen", brüllt er von der Bühne, mit kraftvoller Stimme röhrt er seine Plattheiten in den Saal. „Ich will die Schnauze halten und für fünf Minuten still sein." Der Holländer hat sich amerikanisches Show-Business gut angesehen. Doch dann stand er wieder still. Schaute mit seinen großen Augen ins Publikum, erzählte eine Geschichte oder sprach von Ängsten, die wir alle kennen. Zerbrochene Liebe, Krankheiten, Tod. „Es ist das Jahr 2045, und ich bin 100 Jahre alt. Ich lieg' im Bett und bin am Sterben . . ." Der Tod scheint für den Holländer ein Bruder zu sein. Viel, ganz viel wäre noch zu diesem All-round-Talent zu sagen. Er hat eine enorm erotische Ausstrahlung, sein Striptease bis zur Turnhose hat's bewiesen. Heinz Rudolf Kunze sagte über ihn: „Er ist praktizierte Nächstenliebe mit den leicht zusammengekniffenen Augen des scharfen Beobachters, wiehernde Andacht und steppende Aufklärung — eine mobile Zirkuskirche." Über drei Stunden lang tanzte, spielte Herman van Veen in der Kongreßhalle. Mit seiner unbeirrbaren Menschenfreundlichkeit steht er dabei wie ein Fels in der Brandung. Er ist ein Künstler von ganz seltener Qualität. Seine Musik und die Texte versteht jeder, manchmal vielleicht nicht mal mit dem Kopf. Er erinnert seine Zuhörer an verschüttete Gefühle, an Träume, an Dinge, die meist mit dem Erwachsenwerden verlorengehen. „Ich hab' ein zärtliches Gefühl für jede Frau, für jeden Mann, für jeden Menschen, wenn er nur vollkommen ^ehrlos lieben kann." Das ist sein Credo. Herman van Veen war natürlich nicht alleine in Augsburg. Drei Musiker, Erik van der Wurff, Nard Reijnders und Cees van der Laarse, haben ihn begleitet. Daß das auch außergewöhnliche Talente sind, versteht sich fast von selbst. Das selbe gilt für Elske Lück, die dem Holländer als Marionettenspielerin zur Seite stand. Seit Oktober letzten Jahres ist die Gruppe auf Tour. Fast täglich in einer anderen Stadt, vor einem anderen Publikum. Ermüdungserscheinungen waren nicht festzustellen.

Auch darin scheint der 44jährige Holländer unschlagbar zu sein.



Lilo Murr