Fur Dich
Vera Böhm

Du hast nicht aufgelegt?!

11 nov 1987

Es ist abends. Ein Mann spricht mit seinem kleinen Sohn. Die beiden sind Hunderte Kilometer voneinander entfernt, und so geht’s nur per Telefon. Sehr zärtlich und voller hintergründigem Humor. Da ist die Rede von der Omi, die mit hundert-undneun Jahren gestorben ist, die Superomi. Da erzählt der Vater seinem Kind daheim, daß er deutsch spricht, das „ist holländisch mit ein ganz merkwürdiges Akzent“. Und dann kommt das, was Kinder überall auf der Welt wünschen vor dem Schlafengehen: Eine Gute-Nacht-Geschichte. Es könnte auch ein Lied sein. „Eine Geschichte? Aber ich kann doch jetzt dir keine Geschichte erzählen... Ich muß ein bißchen arbeiten noch... Hm... Nun erzähl ich ganz schnell die Geschichte der Ente Alfred Jodocus Quak. Danach gehst du sofort schlafen. Verabredet?“


So beginnt Herman van Veen sein sinfonisches Märchen, spielt, singt, pfeift, tanzt, hüpft, watschelt, rennt, trabt, springt, flüstert, quakt, schreit, lacht und weint (beinahe) und bringt das Publikum dazu, erst zögernd, dann belustigt mitzusingen: „Quak, quak, quak — ich bin zwar klein, doch ich bin auf Zack!“ Nicht nur Aufforderung zum Mitsingen, auch zum Mitdenken. Nicht anbiedernd, nicht spektakulär, ganz selbstverständlich bezieht er die Leute auf der Bühne, sein „Großes Wasserland-Orchester“ mit dem langjährigen Freund Erik van der Wurff als Dirigent und Komponist und die Leute im Saal mit ins Spiel. Eine Geschichte „für Kinder von 10 bis 107 Jahre“. Überhaupt Kinder. Immer , wieder Kinder. Sie sind’s,„für die sich der Holländer total einsetzt, um eines seiner Lieblichsworter zu gebrauchen. Total.

1945 in Utrecht geboiren , erlebte Herman van Veen das nicht alltägliche Glück einer glücklichen Kindheit. „Mein Vater hat immer dem nachgelebt, woran er glaubte. Ein sozialistischer Mann von altem Schrot und Korn... Ich glaube, daß sein Einfluß mich noch immer bestimmt. Was du auch machst, du mußt dich dazu bekennen.“ Knapp 23jährig wurde er Botschafter seines Landes bei der UNICEF. In ihrem Auftrag verarbeitete er sein Buch zur Musikfabel um die mutige kleine Ente, die eines Tages in der Zeitung liest, daß mancherorts mancher nicht genug Wasser zum Leben hat.
Und beschließt zu helfen. Das hat wenig mit Mitleid, doch viel mit Nächstenliebe und Verantwortung zu tun. „Ich hab’ immer Lampenfieber, bei jedem Auftritt. Aber das schlimmste hatte ich wohl vor sechs Jahren, im Oktober 1981. 450 000 Leute waren gekommen, damals in Amsterdam. Zu einer Friedenskundgebung. Ich hatte ein Lied — Helden -, und plötzlich hatte ich den Text vergessen. Total vergessen. Und das Gefühl, da, vor mir stehen 450 000 Helden, mit ihren Freuden, mit ihren Ängsten und der größten Angst um unsere schöne Welt.“

Er schwor sich: Solange ich lebe, kommen keine Raketen nach Holland. Und das sagte er laut, wo immer man es hören wollte — odef auch nicht. Manchmal sind Schwüre nicht zu halten; doch zu seinen Überzeugungen steht er. „Wir als Menschen müssen miteinander und füreinander denken, statt einander zu bekämpfen“, ist seine Haltung. Als er vor einigen Jahren zum ersten Mal von der Bombe, die nie fällt, sang, da hatte das noch einen fast utopischen Anklang, versteckte er seine Hoffnung hinter beinahe zynischen Bildern. Wie anders klingt das Lied heute schon.

Nicht nur aus beruflichen Gründen ist Herman van Veen neugierig. Da kann sein blauer Blick unangenehm forschend werden. Neugierig auf Stimmen. Auf Gesten. Darauf, wie einer mit dem andern umgeht, wie viele miteinander umgehen, wie ganze Völker miteinander umgehen. Einer, der zu schreien beginnt, wenn er sieht, da stimmt was nicht. Ganz leise. Und das geht verdammt unter die. Haut. Ein solcher Schrei ist sein Lied „Warst du dagegen“, darin der Refrain von den „Augen aus Eis“, das zu seinem Programm gehört, mit dem er im November auf Tournee in mehrere Städte geht.

Fröhliche Lieder sind’s eigentlich nicht, die dieser Holländer singt. Auch keine frohen Geschichten. Die Musik klingt fast ausnahmslos in Moll, was sicher nicht nur etwas mit seiner Stimme zu tun hat. Doch pessimistische Geschichten halt auch nicht. „Pessimistisch bestimmt nicht“, wehrt er sich. „Ich bin Spezialist im Nachdenken darüber, was hätte sein können. Alle Lieder sind immer sehr melancholisch. Ich bin eben keine Dur-Figur. Was ich bin? Ich bin ein Clown. Und ich möchte auch ein ganz guter sein. Doch dazu muß man wohl sehr weise und uralt werden. Und so habe ich noch eine große Zukunft. Und dann bin ich ein reisender Sänger, ein Troubadour, ein Trouvers, der seinen ganzen Körper einsetzt, weil das Singen allein nicht ausreicht.“
Van Veen ist auch ein Mann der Gegensätze. Mit jungen Musikwissenschaft-Studierenden der Humboldt-Universität arbeitet er in einem Workshop an Schubert-Liedern. Eins, „Die Krähe“, hat er in seinem Programm, es läßt ahnen, wohin die Richtung gehen soll: Melodie und Harmonie blieben unberührt, das andere wurde ein wenig verfremdet, „von Ballast befreit“, wie der Sänger erklärt. Gleichzeitig arbeitet er seit einiger Zeit mit Heinz Rudolf Kunze zusammen. Filme dreht Herman van Veen auch noch. Schreibt Büchet, Theaterstücke, macht Videos und Fernsehsendungen für Kinder.

Vier Kinder hat Herman van Veen. Die Älteste, 19jährige Tochter, tritt bereits in die Fußtapfen der Eltern, studiert an der Theaterhochschule Antwerpen. „Jedes Kind ist anders. Die Tochter hat schon ihren eigenen Weg. Sie braucht mich nicht so viel. Doch wenn sie etwas fragt, muß ich gut aufpassen. Wenn’ ich nicht aufmerksam bin, weiß ich, daß ich sie verletze. Mein jüngster Sohn findet mich unglaublich blöd, wenn ich im Fernsehen bin. Er findet mich viel zu alt dazu. Es ist phantastisch, Kinder zu haben. Ich lerne mehr von den Kinder als sie von mir. "Ein Vater telefoniert mit seinem Kind. Sehr liebevoll. Am Schluß sagt er: Und jetzt legst du auf. Horcht. Wartet.


Und freut sich heimlich, als er feststellt: Du hast nicht aufgelegt?!



Vera Böhm