Wochenpost (DDR)
Bernhard Hönig

»Ich habe nur den einen Luftballon«

11 sept 1988

Herman van Veen, Komponist und Texter, Sänger und Instrumentalist, Pantomime — ein Clown

»Alfred Jodocus Quak wohnte schon sehr lange am breiten Kanal im Schilf des Großen Wasserlandes«, so beginnt Herman van Veen seine Musikfabel für Kinder, mit der er Ende September zu uns kommt. Was die Ente Quak aus der Beschaulichkeit ihres Daseins reißt, ist die Zeitungsmeldung, nicht jeder in der weiten Welt habe Wasser genug und mancher nicht genug zum Leben. Das bringt sie in Bewegung. Hier soll nicht vorweggenommen werden, was alles sie zur Hilfe ins Werk setzt und welche Gefahren sie zu bestehen hat. »Man kann nie genug Freunde bei sich haben« — diese Einsicht jedenfalls bestätigt sich. Und als Alfred Jodocus am Ende von allen auf den Thron gesetzt wird, regiert er als ein »außergewöhnlich guter König«, als einer, »der nicht nur für seine eigenen Untertanen sorgt, sondern vor allem auch für all die anderen, die von allem nur ein ganz kleines bißchen haben«.

Wer eine Geschichte mit soviel Witz, soviel musikantischem Vergnügen, soviel phantasievollem Mummenschanz in Szene zu setzen weiß wie Herman van Veen, der darf sicher sein, sein Publikum nimmt auch den »kleinen Puff« auf, den der Künstler aus- und mitteilen will: Ermunterung und Ermutigung, den Aufruf zu gemeinsamer Aktion, eine Vorstellung davon, womit einer seinen Mitmenschen »außergewöhnlich gut«-tut.

Herman van Veen studierte Gesang, doch nicht, um Sänger zu werden; er studierte Violine, doch nicht, um Virtuose zu werden. Was ihn tatsächlich interessierte, war das Leben, die Wirklichkeit in ihrer Fülle und Widersprüchlichkeit. Da wollte er sich einmischen — auf seine Weise: mit Singen, mit Spielen, mit seinem so ausdrucksstarken, wandlungsfähigen Gesicht, mit Händen und Füßen, mit Herz... Gibt es eine ordentliche Berufsbezeichnung für derlei Tätigkeitsmerkmale? »Harlekijn« nannte er sein erstes Soloprogramm, mit dem er 1967 an die Öffentlichkeit trat, und markierte damit die Tradition, in der er sich sah: die der Commedia delF arte mit dem Allerweltskerl Arlequin, dem schlagfertigen Burschen aus dem Volke.

Herman van Veens Mutter war Hausfrau. der Vater Drucker, Typograph. Künstlerische Neigungen oder gar Talente lassen sich bei ihnen nicht entdecken. Aber anderes: »Wenn sie auf der Straße jemanden sieht, der dummes Zeug macht, läuft sie hin und sagt: Wollen Sie bitte damit aufhören! Viele Leute gehen daran vorbei. Aber sie geht einfach hin«, erzählt Herman von seiner Mutter.1* Und von seinem Vater: »Ein sozialistischer Mann von altem Schrot und Korn, der auch mal von einer Familie... und einer sauberen Welt geträumt hatte, der aber als Kind mit dem ersten pnd als erwachsener Mann mit dem zweiten Weltkrieg konfrontiert wurde. Da hat er Tatsachen als Tatsachen akzeptieren müssen, hat sie aber auch als Tatsachen bekämpft... Mein Vater hat immer dem nachgelebt, woran er glaubte.«2* Herman van Veen ergänzt: »Und ich habe das auch ein bißchen. Ich übertreibe es jetzt, es klingt fast arrogant: daß man verantwortlich ist für die ganze Welt.« So kommt der Pingpongball in seine Programme und der große Ballon — Sinnbilder für den Erdball, mit dem sich allerlei anstellen, wunderbar spielen läßt, der aber behutsam behandelt sein will, wenn die Freude an-halten soll. So kommen bestürzende Zahlen in eins seiner Bücher: Seit dem letzten Weltkrieg sind wir Zeugen von 141 Kriegen mit 25 Millionen Toten. Seit dem letzten Weltkrieg sind wir Zeugen von 540 Millionen verhungerten Kindern. Und Zahlen, die belegen, wie teuer Tod und Todesdrohung kommen und wie vergleichsweise billig Leben. 1968, gerade 23jährig, stellte sich Herman van Veen als Botschafter der niederländischen Jugend bei der UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, zur Verfügung.

So singt er, an Jesus Christus gewandt, in seinem Lied »Die Wechsler«5*: »Arme werden ärmer, Reiche kriegen mehr. Mit deinem Markenzeichen ist das nicht schwer...« Und so gründete er 1977 »Colombine«, eine Entwicklungshilfe-Organisation für Länder der Dritten Welt. Ihr Etat setzt sich zusammen aus dem Erlös von Benefiz-Konzerten und Spenden — rund 350 000 Mark alljährlich. Vor allem auf den Philippinen, in Äthiopien, in El Salvador wird damit Menschen geholfen, gesund zu werden und zu lernen, arbeiten und sich selbst ernähren zu können.

So singt er mit der Melodie eines russischen Volksliedes, die von Mikis Theodorakis bearbeitet wurde: »Ich frag’ mich manchmal, sind all die Soldaten, die irgendwo im Krieg gefallen sind, nur unter weiße Kreuze dann geraten, ob sie nicht Kraniche geworden sind. Sie rufen uns, wenn sie vorübergleiten...« Singt es auch, als er am 21. Oktober 1981 mit 450 000 Menschen in Amsterdam gegen imperialistische Hochrüstung, für eine friedliche Zukunft demonstriert. Und im Februar 1986 beim Festival des politischen Liedes in Berlin vor 10 000 jungen Menschen in der überfüllten Werner-Seelenbinder-Halle. So singt er »Tut uns leid, keine Stelle frei, versuchen Sie’s nebenan! Wie Sie sehn, die vielen, die da stehn, stehen auch umsonst nach Arbeit an... Da steht man nun, die Faust geballt, mit 20 schon zu alt.«5) Ein Harlekin, ein Clown? Ja — wenn man diese Begriffe nicht .mit »Spaßmacher« übersetzt. Mit »Unterhaltungskünstler« allenfalls. Und das meint im Fall van Veen: einer, der singt und tanzt und Instrumente spielt, der einen unglaublichen Reichtum an szenischen Ideen mit vollem Körpereinsatz vor Augen führt, der Kontraste aufeinapderprallen läßt laut schockt und leise anrührt, ausgelassen, übermütig ist und tiefernst. Und wo uns Lustoder Leidgefühle schon überwältigen wollen, da fängt und wendet er sie ab. Überwältigte mag er wohl nicht.

Kunstfertigkeit gibt es da zu bestaunen. Aber sie herrscht nicht, sie dient. Mit ihr setzt er Leben ins poetische Bild, wie er es erfuhr: im Lieben, im Sich-Erinnern und Hoffen, in all den kleinen Kümmernissen, in all den großen Sorgen, den Ängsten, wo es ums Ganze geht - fur den einzelnen , fur uns alle. Da spart er nichts aus. Mit Kunst schliesst er seine Zuhorer auf und tragt in sie hinein, was ihnen wohl- und nottut- bedrangt und bedrogt, doch auch so reich an Anlagen zum Guten, wie sie sind. Ironie gehört zu seinen Farben, Melancholie. Zynismus, Verzweiflung nie. »Ich kann mit Negativität nichts anfangen«, sagt er. »Ich stehe nicht da mit Mißtrauen, ich stehe da mit einem Ja.«31 Es ist nicht das Ja, bei dem einer angekommen ist. Es ist das Ja, von dem aus einer aufbricht — zur Suche nach neuen Möglichkeiten. »Michelangelos Skulpturen, sagte er, hätten einzig und allein von überflüssigem Stein befreit werden müssen. Läßt sich nicht dies Prinzip auch auf Menschen übertragen? Von vielen kann man sagen, sie sind unbehauen. Es muß nichtsdestotrotz auf einen groben Klotz nicht immer nur ein grober Keil gehören«, singt Herman ' van Veen in seinem Lied »Herz« und im Refrain: »Hörst du nicht den Trommler, der beharrlich in dir schlägt?«

Er setzt auf den einzelnen. Ihm gilt sein »zärtliches Gefühl«, wenn er sich nur nicht zum Knecht und nicht zum Herrn macht, wenn er den Mund auftut, wenn er zu träumen wagt. Das sind freilich Konditionen, die den einzelnen über sich selbst hinaus verweisen. Ihm gilt sein Respekt wie sein Vertrauen — er kommt ihm nicht mit Fertigem. Aber was er in ihm aufruft an Gefühlen und Visionen, was er an Fakten vor ihn hinstellt, das macht dem Zuhörer seine Verantwortung bewußt, das nimmt ihn in die Pflicht, das mobilisiert, »in meinen Vorstellungen versuche ich eigentlich zu sagen: Wenn du etwas tun willst, dann mußt du es selber tun«, meint Herman van Veen.41 »Der einzelne Mensch hat viel mehr Kraft, als er denkt. Wenn man Selbstvertrauen hat, dann kann man alles, davon bin ich überzeugt.« Und auf die Frage, was die Leute mitnehmen sollen aus seinem Konzert: »Ich glaube: Mut.«

Davon geht nichts verloren, auch wenn er — von seinem Ansatz- und Ausgangspunkt logisch — mit seinen Träumen in die Utopie gerät und dort die GrenzS spürt. »Wenn wir allesamt etwas Positives wollen, dann müßte das eine unvorstellbare kollektive Energie her-vorrufen können... Diese kollektive Energie wird es wohl nie geben, aber es ist faszinierend, darüber nachzudenken.« Mut und Mutige, die Herman van Veen bestärkt, brauchen auch die, deren Nachdenken über kollektive Energie von anderem Ansatz zu anderen Konsequenzen führt. Die den großen Versuch wagen, gesellschaftliche Praxis werden zu lassen, was auch er als notwendig erkannte:

»Man muß die Umstände kreieren, in denen Glück möglich wird.«

Ob Herman van Veen in Utrecht auftritt oder am Broadway in New York, in einem großen französischen Theater, einem belgischen Kulturzentrum oder in einer großen Sporthalle in der DDR, die Häuser sind ausverkauft, der Beifall will kein Ende nehmen. Da wird der große Künstler gefeiert, und immer schwingt darin etwas wie Dankbarkeit mit für das Lächeln, das er in die Gesichter zauberte, für Ermutigung, für den Begriff von Menschlichkeit, den er mitteilt. Unterschiedlich allerdings ist hier und da der Boden, auf den seine Botschaft fällt.

Da wird ihm von einer Zeitschrift in der BRD die Selbstcharakteristik in den Mund gelegt, er sei »ein Mann, der mit beiden Beinen fest in den Wolken steht«. Das weist er zurück. Da wird auf blühende Phantasie reduziert, was er sich einfallen läßt. .Das rückt er zurecht: Es sind harte Fakten, wovon er ausgeht, und was er spielerisch sucht und anbietet, sind Möglichkeiten, darüber hinaus zu gelangen. »Ach, ließe er nur den zeigefingerschwingenden Moralisten zu Hause!« schrieb eine BRD-Zeitung. »Als ob sein hinreißender Unsinn nicht genügte, ein Publikum drei Stunden lang zu vergnügen?« Maßstäbe dort, nicht Maßstäbe hier.

»Die Bombe fällt nie« überschreibt Herman van Veen einen Text. Frohe Botschaft? Für die allermeisten in aller Welt wäre sie das gewiß. Doch der Autor zielt auf jene, die sich am liebsten von Unsinn hinreißen lassen, sich im Vergnügen erschöpfen. Die stellt eine solche Nachricht vor Probleme:



»Hat das nicht schlimme Konsequenzen?
Die Zukunft hatte bislang Grenzen,
doch wenn man wieder planen kann,
was fängt man mit der Zukunft an?...
Jetzt wird mir wieder angst und bang,
wo führt das hin,
wo geht das lang?
Wo bleibt die Lust am Untergang?...«

Selten ist so kraß, so eindringlich vorgeführt worden, in welche Perversion menschliches Denken und Fühlen vom Imperialismus getrieben werden können, von einer Gesellschaftsordnung, die — hochproduktiv, aber unfähig, die brennenden sozialen Probleme zu lösen — Endzeitstimmung verbreitet. Aber auch damit schiebt Herman van Veen den Zuhörer an: daß er dem auf die Beine hilft, was da kopfsteht, daß er sich der Verantwortung für Gegenwart und Zukunft stellt.

Bleibt die Frage, wie das zusammengeht: daß da einer mit unüberhörbarer Gesellschaftskritik jeden Konzertsaal füllt, Unmengen Schallplatten verkauft, kommerziell erfolgreich ist? Eine Erklärung liegt sicher darin, daß in dem, was Herman van Veen anpricht, sich viele Zuhörer tatsächlich wiederfinden. Er entdeckt ihnen, wie sie gesellschaftliche Wirklichkeit erfahren. Zum anderen: Er findet zum rechten Wort den rechten Ton. Wer in seinen Hörgewohnheiten von populärer Musik geprägt wurde, den läßt er nicht aus diesen Wolken fallen. Opportunistisch kann das nur einer nennen, der selbst mit weniger Erfolg das Ohr der Hörer sucht. Es ist opportun. Professionalität in solcher Potenz — die erreicht wohl nur, wer nicht nur sich, wer mit sich eine gute Sache durchsetzen will. Daß Herman van Veen den Markt in seiner Welt kennt und sich auf ihm auch zu bewegen weiß — ich sehe darin keinen Makel. Es ist Bedingung.

Schreibt man über Herman van Veen, dann im Wissen — und das belastet —: Ganz gerecht wird man ihm schwerlich. Was seine Wirkung letztlich ausmacht, ist in Worte nicht zu fassen. So hielt ich mich an seine Worte, wo möglich, und an die Fakten. Auch weil ich erlebte: Im poetischen Spiel, vorm feuchten Auge verschwimmen manchmal die Konturen. Und Verklärung ist nicht, was er sucht. »Der Kurs, auf dem ich fahre, ist Aufrichtigkeit, mein Ballast ist eine immense Portion Verantwortlichkeit«2', sagt Herman van Veen. Was er sucht, sind Leute, die — seiner oder anderer Weltanschauung - eben diesen Kurs halten, die an diesem Ballast mittragen.


Herman van Veen in der DDR Vom 22. bis 27. 9.1987 gastiert er mit »Die seltsamen Abenteuer des Alfred Jodocus Quak« im Berliner Ensemble.
(Text und Regie: van Veen, Musik: van Veen, van der Wurff; deutscher Text:
Thomas Woitkewitsch. Uraufführung: 1978)
Die Vorstellung wird vom DDR-Fernsehen aufgezeichnet.
Am 16. und 17. 11. 1987 gastiert er mit einem Liederprogramm in Dresden, am 19. in Leipzig, am 20. in Karl-Marx-Stadt, am 22. in Weimar.



Herman van Veen wurde am 14. März 1945 in Utrecht/ Niederlande geboren. 1967 schloß er sein Studium (Musikpädagogik, Violine, Gesang) am Utrechter Konservatorium ab und startete sein erstes Soloprogramm: »Harlekijn«. 1968 gründete er die Firma »Harlekijn Holland«, die zu einer Multimedia-Produktionsgesellschaft heranwuchs. 1974 begann van Veens internationale Karriere, die ihn in die Länder West- und Nordeuropas, der Karibik, in die USA und nach Japan führte. Am 1. April 1982 trat er erstmals in der DDR auf: im Rahmen eines DT 64-Jugendkonzerts im Palast der Republik.

Zu seiner Band gehören Erik van der Wurff (Synthesizers; Kompositionen, Arrangements), Nard Reijnders (Saxophon, Klarinette, Akkordeon), Chris Lookers (Gitarre), Cees van der Laarse (Baßgitarre).





Bernhard Hönig