RHEINISCHE ROST
UWE REIMANN

Wanderung an den Rissen der Seele entlang

10. April 1992

Der Mann ist ein Phänomen. Mit schütterem Haar, viel zu großem schwarzen Anzug und einer Geige in der Hand steht er im Lichtkegel einfach nur da. Leise und bedächtig erzählt er seine Geschichten — alltägliche Begebenheiten. Was bei vielen echten oder vermeintlichen Stars „schlapp” wirken würde, ist das Erfolgsrezept von Herman van Veen. Mit spielerischer Leichtigkeit läßt er sein Publikum an der Reise durch Gefühle, Leid, Liebe und Träume teilhaben. Auch in Duisburg hat der Poet sein Publikum. Eine restlos ausverkaufte Mercator-Halle am Mittwochabend spricht nicht nur für ihn, sondern auch für die romantische Ader vieler Zeitgenossen.


Van Veens musikalische Wanderungen an den Rissen der menschlichen Seele entlang stehen im Gegensatz zum hektischen Alltag einer Ellenbogengesellschaft. Den Gefühlen, die so mancher heute nicht mehr zeigen will oder kann, verschafft der Niederländer Ausdruck. Es scheint, als ob Herman van Veen das Sprachrohr der zweifelnden und bedrückten Seelen ist. Wenn er von Liebkosungen seiner Kinder spricht oder sich an die Erlebnisse seiner Geburt erinnert, gräbt auch der Besucher tiefversunkene Gefühlswelten hervor. Was mancher als „Weichspüler” verunglimpft, kommt bei jung und alt an.

Wie lockt man ein Baby auf natürliche Weise aus dem Mutterleib, das angesichts von Kriegen und Umweltzerstörung nicht so recht das Licht der Welt erblicken möchte? Mit Lego, Michael Jackson vor der Gesichtsoperation, mit den New Kids On The Block oder mit Op"s Testament. Van Veens Nadelstiche gegen die moderne Zivilisation sitzen tief. Und all das bedarf keiner übertriebenen Gebärden. Herman van Veen steht einfach nur ruhig da, erzählt und singt.

Kleinste Anekdoten streifen immer wieder die schnellebige Zeit und halten dem Publikum einen „geschichtlichen” Spiegel vor. So wie der Westberliner Hund, der seinem Ostberliner Artgenossen ans Bein pinkelt und fragt: „Stand hier früher nicht etwas zwischen uns?”. Andächtig wie in einer Kirche sitzen die Menschen da und lauschen. Wenn van Veen dann mitten im Programm versteckt die Frage stellt: „Wovor hast du Angst?”, scheint er sie für jeden einzelnen aus dem Publikum stellvertretend zu stellen.

Auch wenn das Programm mit vielen Witzen gespickt ist, so gleitet es nie in Effekthascherei ab. Alle Witze haben bei van Veen einen tieferen Sinn. Mit einem Trommelwirbel beendet der Niederländer sein Konzert. Auch hier schaut aus ihm das offensichtlich vom Publikum erwartete Kind hervor. Angesichts von frenetisch geforderten Zugaben, von denen er auch gleich zehn gibt,'wird klar:

Herman van Veen hat sein Publikum im Griff.



UWE REIMANN