Wolfenbütteler Zeitung
Dirk sarnes

Der Mann aus dem Publikum

Herman van Veen gastierte gestern und vorgestern in der Stadthalle

8 nov 1984

Der schwarzgekleidete Mann kommt aus dem Publikum, einen Geigenkasten unter dem Arm, einen Zylinder auf dem Kopf und die Geige in der linken Hand. Geradewegs stiefelt er auf die Stadthallenbühne los. Im zartblauen Scheinwerferlicht schließt er auf der Bühne Bekanntschaft mit einem überdimensionalen Tennisball, der voller Scham rot anläuft. Für solch sensible Konzertauftakte ist dieser schwarze Mann mit den spärlichen Haaren immer gut. Ein Clown, ein Poet, ein Pantomime und ein Musiker oder schlicht „ein Holländer mit glänzender Glatze” - wie er sich selber nennt - das ist Herman van Veen.


Doch kein dreistündiges verträumtes Programm bringt der 39jährige gebürtige Utrechter mit. Gleich zu Anfang rüttelt er sein Publikum auf. „Die Bombe fällt nie ... wo bleibt die Lust am Untergang?" Der sanfte Poet spielt mit Ton- und Geräuschkulissen. Er wird seine Botschaft, die er phantasievoll und unaufdringlich serviert, schnell los. Endzeitstimmung.

Doch nach „dem Ende” geht das Programm weiter. „Edith Piaf", der zartbesaitete Holländer, der schon am Broadway spielte, jedoch bei den Kritikern durchfiel, erzählt von seiner Gänsehaut bei den Liedern von Edith Piaf. Aber nicht nur Kindheitserfahrungen hat er zu seinen Liedern verarbeitet. Seine Liederwelt ist voller Trivialitäten und voll tragischer Ernsthaftigkeit.
Er experimentiert mit der Stille und den Geräuschen, feilt die Musik auf seine Texte zu und spart nicht an Metaphern. Für kleine Zwischenspiele hat er immeT Platz. Er schlüpft in die verschiedensten Rollen und macht den Eindruck, als hätte er denselben Spaß am Verkleiden wie ein kleines Kind. Seine Gags sind geradezu simpel. Selbst mit einem in die Stille gehauchten „Ach ist das schön” reißt er die Leute von den Sitzen.

Er schleppt ganze Berge von Requisiten auf die Bühne, baut zu jedem Einzelteil fast schon eine zärtliche Beziehung auf und verkauft seine Philosophie stets mit einem Knalleffekt. Er ist albern und gleich darauf zutiefst nachdenklich. Sein Publikum versteht ihn sogar, wenn er ihm gar nichts erzählt und sich statt dessen in Lautmalereien vertieft. Bis zum Ende zieht der sympathische Holländer diese anscheinend konzeptlose Unordnung durch. Vor der Pause drückt er jedoch seine Fans noch einmal in die Sitze, erst nach einer inszenierten Apokalypse dürfen alle gehen.

„Die Bewerbung." Ernsthaft macht Herman van Veen nach der Pause weiter. Er spielt den Arbeitslosen und vermag die Gänsehaut zu vermitteln, die er bei den Liedern von der Piaf empfang. Doch gleich danach ist er wieder der Clown.
Zu jedem Unsinn bereit und nur mit Flausen im Kopf. Er hat eine liebevolle Art sich zu steigern, andere Perspektiven einzunehmen und seinen Charakter zu ändern. Selbst in seiner Melancholie kann er immens witzig sein. Es reicht schon, wenn der Niederländer in der Rolle eines Franzosen auf deutschem Stadthallenboden über die Beziehung zwischen Amerika und der UdSSR nachdenkt. Kurz vor dem Grande Finale bringt er einen alten Spruch auf den neuen Nenner: „Es war Krieg, doch keiner ging hin, weil die Musik so schön war.”

Mit der Musik scheint er alle Probleme der Welt lösen zu können. Die Musik ist sein Kommunikationsmittel für jede Sprachlosigkeit. Er kommt damit bei seinem Publikum an. Sie fordern ihren Herman auch nach dem zweistündigen Programm auf die Bühne, und er spielt noch bereitwillig fast eine weitere Stunde.

Zum Schluß sitzt er in der ersten Stuhlreihe als ein Mann aus dem Publikum.



Dirk Sarnes