Abendzeitung
Andreas Radlmaier

Dompteur der Niedertracht im Fahrstuhl großer Gefühle

Die Nürnberger Auftritte von Herman van Veen wurden als Ereignis gefeiert

8. Mai 1992

Er Ist so frei: Zur Verbeugung tritt Herman van Veen ohne Beinkleid vor den Vorhang. Doch nicht mal der Kurzauftritt in der Unterhose kann die Zuschauer zum Heimgehen bewegen. Dabei käme er doch alle vier Jahre vorbei, meint der Fesselungskünstler mit Unschuldsblick. Diese olympische Zeitrechnung paßt eigentlich auch gut zu einer Ausnahmeerscheinung, die Begegnungen auf dem Unterhaltungs-Olymp garantiert. Manches,, sagt Herman van Veen, ist „unsingbar“. Seine Weltklasse-Auftritte sind nach wie vor unsagbar. Einfach Veen-omenal. Bei den zwei ausverkauften Abenden in der Nürnberger Meistersingerhalle war die Reaktion zwangsläufig Begeiste-rung mit offenem Mund.


Aß Maestro mit Schirm, Chapne und Geige und seinen beiden Musikpartnern (Pianist Erik, van der Wurff und Saxophonist Nard Reijnders entwerfen (verblüffende Klangbilder) checkt er ein im „Grand Hotel Deutschland“, dort wo schon „Adolf Hitler, Kati Witt und Rudi Carell“ abgestiegen sind. Von der Empfangshalle steuert Alleskönner Herman van Veen direkt in einen raffiniert gesteuerten Fahrstuhl der großen Gefühle. Jedes Requisit ein Symbol. jeder Satz eine Überleitung.

Eine Schnapsflasche mit Clownsnasen-Verschluß als Impuls für einen trunkenen Traum, in dem der Polizisten-Revolver zum Alcomat wird, eine leuchtende Musicbox als Stipimungskulisse für ein Her-reiitänzchen. eine Tageszeitung als dissonanzenreiche Partitur. Und vom Mafia-Begräbnistorte ^Ätet der Holländer weiter zu Frankiee Boy und singt als Gummiband-Marionette dessen „My way“. Lächelnde Bildpoesie für eine „Welt, die jeden Augenblick sterben kann“ und in der Glücksmomente zum Aufschrei gefrieren.

In seinem „Verwacht“-Pro-gramm (nach der Pause läßt er seiner Beruhigungsstimme verstärkt freien Lauf) hat van Veen sein atemberaubendes Phanta- sie-Bündel zum punktgenauen Befindlichkeits-Patchwork geordnet, das Kalkül nicht mit Kühle verwechselt oder Emotion mit Gefühlsduselei. Seelenbalsam, der unter den Nägeln brennt. So garniert der Sanftmutmacher Bühnenmagie mit Zauberkonfetti, balanciert auf dem roten Faden der Melancho- lie über menschlichen Abgründe dahin und läßt sich immer wieder genüßlicfitihs schwarze Humor-Netz fallen. Der Tochter singt er am Telefon zur Beruhigung einen gruseligen Katzensong vor, verknüpft die Bronchitis der Mutter mit der Frage nach der Bestattungsform und erzählt von den beiden Hunden aus Berlin Ost und West, die^ sich anpinkeln und sich fragen, ob da nicht mal ’ne Mauer war.

Der 47jährige Dompteur der Niedertracht, der da nach drei Stunden ausgepumpt auf der Bühne steht, ist ein bißchen leiser geworden. Auch so lassen sich Sternstunden ausleuchten.



Andreas Radlmaier