Die Zeit
Martin Ahrends

Endlich ein Clown

7. dezember 1990

Der holländische Chansonsänger hat eine eigenwillige Philosophie

An jedem Samstag ist Alfred im Fernsehen. Alfred Jodokus Kwak, eine Zeichentrickserie, die sich der Holländer Herman van Veen ausgedacht hat, läuft in 26 Folgen im ZDF und anderen europäischen Kanälen. Das ist so gut gemacht wie bei Walt Disney - und ist das Gegenteil von Tom und Jerry, die ständig miteinander Krieg führen, den alltäglichen Krieg, den Kampf ums Dasein. Doch das Gegenteil des rabiaten Catch-as-catch-can ist bei van Veen keine seichte Kindertümelei: Das Nest, in dem Alfred zur Welt kam, wird von einem Bagger ab-geraümt; Alfreds Enten-Eltern und -Geschwister enden unter den breiten Reifen eines Baufahrzeuges.



Was ist das? Eine Jammer-Serie, eine deprimierende Show? Aber nein, Alfred ist ein besonders fröhliches Entlein. Warum auch nicht, er ist ja noch lebendig. Wo seine Wiese war, entsteht ein Vergnügungspark, dort werden Maschinen aufgebaut, um einer dickhäutigen Spezies Mensch ein müdes Lächeln abzuringen. Alfred kennt andere Vergnügungen: Er geht mit seinen Freunden einfach auf Weltverbesserungs-Abenteuer aus.
Herman van Veens Vergnügungen sind denen seiner Ente Alfred ähnlich und waren es von jeher. „Die meisten Probleme kommen daher, daß wir uns nicht am bloßen Dasein freuen können.“ Er ist ein Weltverbesserer der harmlosen Art: „Überall ist es das Happy-End einer Utopie, die Menschen lächeln zu lassen“; schon in der Schule ist er der Clown und genießt es. Oder es verdrießt ihn, immer „draußen“ zu sein und „daneben“. Die Schule langweilt ihn unsäglich, abstrakte Lehren erscheinen ihm wie „leere Fässer“. Auch bei seinem Musikstudium hat er immer den Drang, „nach draußen zu gehen“, auf die Straße. Er folgt dem Drang und macht seinen Weg - mit seinen Musik-Clownerien durch die großen Städte der ganzen Welt.

Mit 23 Jahren gründet er in Utrecht 1968 eine multimediale Factory für sein Musik-Theater, „Harlekin“ heißt sie und ist seither Produktions- und Ausbildungsstätte für freie Gruppen. Sechzig Langspielplatten in vier Sprachen dokumentieren die musikalischen Arbeiten des heute 45jährigen van Veen; er hat Theaterstücke, Filmmusiken und Kinderbücher verfaßt. Er hat die Entwicklungshilfe-Organisation „Columbine“ gegründet und -auch für seine humanitäre Arbeit - mehrere Preise bekommen. Ein Weltverbesserer der harmlosen Art: Was er will, das sind ein paar weniger von diesen verpaßten Momenten, „wo man sich trifft, um sich zu verabreden“. Was er will, das ist etwas weniger Angst, denn Angst kreiere die Welt, in der wir leben. „Die ganze Politik lebt davon, und man braucht die Angst, um etwas Unbrauchbares verkaufen zu können.“

Wir Verbraucher. Wir verbrauchten Verbraucher. Nichts will mehr so recht zünden von den wirklich bemühten Einfällen der kosmetischen, der Spirituosen-und der Reiseindustrie, der unterhaltungs-elektronischen und der Automobilbranche. Das ist wohl der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, ob man sein Leben nicht auch selbst erfinden könnte. Anstatt es erfinden zu lassen von hochbezahlten Leuten. Oder sich abkaufen zu lassen, um es sich leisten zu können.

Entrinnen in die Welt

„Wenn es nur die .Realität“ gäbe, wäre Selbstmord gar keine so unlogische Handlung“, sagt Herman van Veen. Er schlägt vor, aus dem Alltag, wie er nun mal ist, ein illustres Spiel zu machen. Beinahe alle Nummern seines neuen Programms sind Improvisationen aus alltäglichen Begebenheiten, die einem auch selbst hätten einfallen können. Wenn man dieses tägliche Leben nicht so arg zum Mittel irgendeines fernen Zwecks degradiert hätte: des nächsten Wochenendes oder Urlaubs, einer Anschaffung gar (womit wir wieder beim verbrauchten Verbraucher gelandet wären). Wir sehen bei van Veen: Da lebt jemand, anstatt sich leben zu lassen.


„Ich armer Mann, was fang’ ich an? Ich will mich lustig machen, solang’ ich kann.“ Ein Clown beantwortet seine Fragen selbst. Er braucht niemanden, der sie ihm beantwortet, denn er ist weise. Aber er braucht viele, die ihn lieben, denn er hat sonst nichts auf der Welt. Van Veen nennt sich einen Clown, und er ist nun -nach einigen Umwegen, die sein Publikum stets in begeisterte Anhänger und enthusiastische Kritiker gespalten haben -genau dort angekommen. Bei einem Programm, in dem alles „stimmt“, weil alles aus der konkreten Situation des Abends geboren ist. Wiewohl es natürlich „Nummern“ gibt, Tanz und Gesang, Conference und Clownerie.

Doch jede Nummer beginnt mit dem Allereinfachsten, mit dem Blick zum Publikum und der Übereinkunft, daß hier nicht Exotisches vorgemacht wird, sondern nur aus gespielt, weitergespielt, vielleicht zu Ende gespielt, was jedermann schon zugestoßen ist. Die Übereinkunft, daß nur gezeigt wird, was alle kennen, die Nähe mit seinen Zuschauern, die jeder Clown auf jedem Marktplatz seit jeher brauchte. „So wie diese Vorstellung sich nun entwickelt, ist es ein großer Koffer, in dem nur ein Pingpongbällchen steckt. Und damit zauberst du dann. Du kommst nirgendwoher und gehst nirgendwohin. Ich hab’ mir ein Loch gezimmert, und das schleppe ich überall mit mir rum.“

Die Troubadoure sind ihm Vorbild, die umherziehenden Sänger des Mittelalters, deren Gesänge sich ständig erproben und wandeln mußten an einem „Lauf-Publikum“, an Leuten, die durch nichts genötigt waren, bei ihrem Vortrag auszuharren, es sei denn durch ebendiesen. Beim französischen Straßentheater hat van Veen gesehen, daß die Einheit der Künste mit der Einheit des Lebens zu tun hat. Er wollte nie ein Illusionskünstler sein, jemand der sein Publikum entführt in eine Welt unerreichbarer Kunstfertigkeit, der sie entzückt mit Virtuosität und Brillanz, der sie verwirrt mit Zauber und Gaukelei. Wenn van Veen zaubert, streut er Konfetti: Was sich damit verändert, ist nichts als sein, als unser Blick. Konfetti als Zauber: Es gibt nur diese Welt und dieses Leben, es ist kein Entrinnen, es sei denn in diese Welt, in dieses Leben. Mit einem neuen Blick. Mit neuem Sinn für den Augenblick. Seine Kunst ist nicht die des Singens, Tanzens, der Clownerie: Die sind nur Voraussetzungen. Van Veen zeigt in seiner Vorstellung, daß Lebenszeit nicht dazu da ist, etwas „durchzuziehen“, sondern dazu, etwas entstehen zu lassen. Immer wieder ist er mit seinem Latein am Ende, mit dem, was man lernen und nachmachen kann. Immer wieder läuft etwas schief, kommt etwas anders als erwartet. Immer wieder muß er aus dem, was ihm gerade schiefging, aus dem, was er gerade in der Hand hat, ein neues Spiel erfinden, eine neue Geschichte. Und immer bringen ihn seine Geschichten von den „großen Problemen“ zurück zum Nächstliegenden. Er kniet und bittet den Himmel um etwas Großes - was von oben herabgeschwebt kommt, ist ein Kleiderbügel, er kann seinen Rock daran aufhängen und ist fürs erste erleichtert.

Eine politische Wette

„Ich sage die Sachen nicht, die ich sage. Das ist es, was ich zu sagen habe.“ Wie bitte? Er spricht nicht aus, was er mitteilt. Und ebendies ist seine Message. Bitte, was? Er hat keine Message, es sei denn die: Der gelebte Augenblick ist reicher als jeder verbalisierte Gedanke daran. Ein Packen Zeitungen fliegt vom Himmel, gebündelte Langeweile. Soll man sich deshalb langweilen? Van Veen nimmt eine Zeitung und singt das trockene Zeug im Beicanto, weil er sich nicht langweilen lassen will. „Ich arbeite im Niemandsland und werde schief angesehen von Figuren, die im Jemandsland sind. Die sind da, wo es ,deutlich“ ist. Und da will ich nicht sein.“

Aus Winzigkeiten macht er ein Ganzes, man lacht viel, ist gerührt und - erschrok-ken: Da erzählt jemand von seiner gefährlichen Liebe zum Alkohol. Ein Briefträger überbringt einen Brief, darin steht geschrieben: „Herman, ich bin in deinem Koffer.“ Flugs wird eine Flasche aus dem Koffer geholt und muß auch schon vor dem einstigen Briefträger und Pianisten, der sich nun in eine Art Anstaltswärter verwandelt, verborgen werden . . . Die Geschichte mit der Flasche zieht sich durch. Nach der Zugabe findet Herman einen Schnipsel am Boden.
Einen der Zeitungskonfetti, mit denen ein besonders schwerwiegender Zauber ins Werk gesetzt wurde. Ein Toter sollte auferstehen - und auferstand als Herman-Stabpuppe. Nun dieser Zettel, der uns vorgelesen wird: „Herman, ich bin in der Garderobe.“ Wir wissen nun, daß der Abend zu Ende ist. Und: daß man seinem Schicksal wohl einen Abend lang entrinnen kann, aber nicht endgültig.

Sein Leben selbst erfinden? Ja wie denn, wann denn, wo denn? Wenn man sich unterbricht und ausschert. Wenn man einen Haken schlägt. Wenn man ein bißchen Clown wird wie er und es sich wenigstens vorstellen kann, auf der Straße zu tanzen und seinem Nachbarn in der Bahn etwas ins Ohr zu singen. Clowns sind „unmöglich“. Doch ohne die Unmöglichen gäbe es nichts, was möglich werden könnte.

Im Herbst vorigen Jahres war Herman van Veen in Ostberlin. Großer Andrang, großes Polizeiaufgebot, Tausende im Saal, Hunderte davor. Van Veen führt seinem DDR-Publikum vor, daß man es kommandieren kann: Er bittet, eine komplizierte melodische Phrase nachzusingen: Unsicherheit, Gelächter. Er bittet allen Ernstes: mattes Lachen. Er kommandiert: Stille im Saal. Wenn man es wolle - er habe auch andere Mittel: Die Bühne wird schwarz, grelle Scheinwerfer blenden das Publikum, Maschinengewehrrattern, ohrenbetäubend. Keiner hat mehr gelacht oder geklatscht.

Am Ende seiner Vorstellung schloß van Veen mit den jungen Leuten aus Ostberlin eine Wette ab: In einem Jahr, zur selben Stunde wolle er sie in Paris treffen. „Wer nicht kommt, zahlt hundert Mark.“ Es war eine politische Situation, in der es schon weitgehend auf die im Saal ankam, ob sie die Wette halten konnten. Daß ihre Zeit gekommen war, spürten sie an diesem Abend wohl so deutlich wie der Holländer.

Zwei Wochen später fiel die Mauer.



Martin Ahrends