Schlei-Bote
Wolf Achilles

Der Clown, der an seinen Sarg klopft

7 nov 1988

FLENSBURG. „Ich sterbe ja gern. Aber doch nicht in Flensburg ..." Sätze wie den verzeihen die Flensburger sicher nicht jedem. Aber von Herman van Veen,augenzwinkernd, vorgetragen, versetzt er sie in Entzücken. Bis in die Nacht zwang das entfesselte Auditorium in Flensburgs Deutschem Haus den Gast aus den Niederlanden immer noch zu einer Zugabe mehr - und das zwei Abende hintereinander. Wer das Multitalent bislang nur vom Hören kannte, der wußte nicht, was für eine dichte szenische Magie der auf der Bühne verbreitet. Die Stimme (von der Platte) ist allenfalls Schatten und Abglanz dessen, was das theatralische Phänomen van Veen tatsächlich an Wirkungen verkörpert: die Summe aller denkbaren Gattungen, - vom Grotesktanz bis zur konzentrierten Charakterstudie.


Dieser Holländer ist ein Zauberer. Er zaubert pausenlos (und gelegentlich sogar - buchstäblich - aus dem Hut). Vor allem aber zaubert er Stimmungen. Daß er sich dabei auch eines gewissen technichen Aufwands und eines beträchtlichen Arsenals elektronischer Erffekte bedient, ist nicht das entscheidende. Entscheidend ist. „wie“ er das macht. Das theatralische Wunder Herman van Veen hat mit Suggestion zu tun, Ausstrahlung, Charme, - aber natürlich auch mit virtuos beherrschtem Handwerk. Die Gesangstechnik hat Opernniveau. Seine Pantomimen müssen auch anspruchsvollste Vergleiche nicht scheuen. Natürlich ist er Clown und Akrobat, Tänzer und Conferencier. Und man kommt zwischendurch nicht umhin, immer wieder die körperliche Fitness des 43jähri-gen (ehemaligen holländischen Spitzenfußballers) zu bewundern.

Sonnabend und Sonntag lehrte er das Publikum an der Förde ganz neu das elementare, kindliche Staunen, -nicht zuletzt mit seinem Mut zu „Bruch“ und Auflösung. Sobald er sie aufgebaut hat, die nachdenklich-lyrische Stimmung, das „schöne“ Bild, den poetischen Schauer (der Besucher erste Anzeichen von Ergriffenheit zu zeigen droht), - kommt die Ernüchterung, die überraschende Wendung zum Profanen . . .

Nach eher philosophischer Attitüde, einer Musik, die gerade noch sehr getragen, gefühls- und gedankenschwer daherkam, erfolgt der Schock, die gezielt triviale Pointe: „Dieser Tag ist wie ein Griff ins Clo . . .!“ Wobei „Dieser Tag ist. . noch nach sich bedeutend ankündigendem Fazit klingt.

Doch auch der umgekehrte Vorgang ist möglich. Zum Beispiel ist er „sooo glücklich“, daß er mit uns „kurz über das Sterben reden möchte“. Und dann folgt, teils ernst, teils burlesk vorgetragen, seine Lebensphilosophie über den Tod: „Man könnte nämlich viel schöner sterben . . .“ Und das stellt sich der melancholische Spaßmacher beispielsweise so vor: „Ich lieg im Bett. Ganz entspannt! Tee, Spekulatius -alles ist da. Und die Karte verschickt: „Herman stirbt. Kommst Du auch . . ?““ Und dann- ein schön groteske Stück Märchentheater - setzt der groze In-Szene-Setzer sein eigenes Begräbnis in Szene.
Noch aus dem Sarg heraus läßt er die Puppen tanzen. Ein Harlekin dreht als Hermans Geist auf dem Sargdeckel seine Pirouetten. Aber plötzlich tritt der große Zauberkünstler Hermann van Veen in persona aus dem Hintergrund auf, klopft mehrmals vergebens auf den Sarg und bedauert: „Ich antworte nicht. Ich bin richtig tot." Er greift nach einer dort liegenden Karte und liest: „Herman ist tot!“ Und dann kommt wieder einer dieser für ihn so typischen Brüche, mit denen er Stimmungen auflöst, bevor sie ihm und dem Publikum über den Kopf wachsen, mit denen er jeder Art von tränenseligem Sentiment das Wasser abgräbt: „Herman ist tot! - Nur drei Worte. Sch . . . !!“

Nach der Pause wird“s irgendwie „ernst“, um nicht zu sagen: feierlichbedrohlich . . . Viel „schwebende“ Andeutung. Bis zu Graden des Visionären reicht das! Die Größenverhältnisse stimmen da zum Beispiel nicht mehr: Das Mikrophon wächst in den Himmel, das Coctail-Glas ist so groß wie ein Blumenkübel, die Geigen sind winzig oder monströs. Griffiges Bild einer Welt, in der nichts “mehr zu stimmen scheint.

Zwischendurch Welttheater in skurrilster, gedrängtester Form: Herman und die Weltkugel bei einem akrobatischen Ballance-Akt auf dem Schleuderbrett. Die Musik schwillt oratorienhaft an, um dann unvermutet in eine ironisch aufmunternde Diktion a la Weill zu verfallen. Van Veen reflektiert über die Überlebenschancen der Menschheit. Mehr poetisch als politisch, übrigens.
Wie ernst es da jemandem mit seinen Späßen ist, bestätigt er zwischendurch immer wieder mit Sätzen wie: „Wer erklärt mir, wie man diese Splitterwelt zusammenfügt, wer erklärt mir . . .“ Auch das sjmiptomatisch für den Lieder- und Theatermacher: Da steht, singt, tanzt, konferiert und schauspielert keiner, der „Antworten geben“ will. Da ist einer, der „nur“ fragt. Das allerdings eindringlich!

Manchmal, zwischen den Zeilen sozusagen, klingt (wie in dem fiktiven Telefongespräch mit seiner Familie) ein Ton von kritischer Vergangenheitsbewältigung an: „Keine Angst, Mama. Die Deutschen sind heutzutage sehr nett zu uns!“ Zweimal bringt er das ausverkaufte Deutsche Haus zum rasen: Mit der brillant-anschaulichen Pantomime, mit der er amerikanische Musik-Kultur.verulkt und seinem Tennis-Match-Auftritt a la Boris - und zwar (das wohl aus purer Selbstverulkung!) zu den Klängen aus Wagners „Fliegendem Holländer . . .

Enorm die sinnliche Bildkraft, die von all dem ausgeht. Sie zeigt, was für ein kleines Show- und Theater-Genie dieser Holländer ist.

Die Zugaben, wie gesagt, rissen nicht mehr ab.


Mitternacht nahte - und die Begeisterung kannte keine Grenzen



Wolfg Achilles