Rems-Zeitung
Helmut Bredl

Euphorie für den Zauberer

Van Veen - Konzert wie noch nie

6 okt 1984

Es war ein Konzert, wie es Gmünd wohl noch nie erlebt hat. Der große Mann aus den Niederlanden, der Clown, Mime, Tänzer, Harlekin, Poet, Liedermacher, Schauspieler, Komponist und Musiker Herman Van Veen verwandelte den Stadtgarten in ein Zirkuszelt, in einen Dom. Da wurde eine Messe gelesen in Liedern, die zutiefst von christlichen Gedanken zeugen. Keine Chance aber gab es für unverbindliche Rührseligkeit. Van Veen steht auf der Bühne und schreit seine Verzweiflung über den Raketenwahnsinn hinaus. Da wurde aber auch gelacht, gepfiffen, geklatscht, wenn das Universalgenie Van Veen wie ein Derwisch über die Bretter steppte und das Publikum aus dem Fallen in die Melancholie herausriß in euphorische Ovationen. Im Stehen zollten ihm schließlich die Gmünder über eine halbe Stunde Beifall.


Was soll man schon schreiben, wenn man überwältigt ist und einem nichts mehr einfällt? Was sagen schon solche Leersätze wie "Das Publikum war außer sich" oder "Selbst ältere Semester waren so begeistert, daß sie minutenlang im Stehen applaudierten". Ich habe Herman Van Veen dreimal jetzt im Konzert erlebt und jedesmal erging es mir ähnlich: Ich war zutiefst berührt.
Van Veen, das ist nicht nur die Show eines Superstars. Allein schon solche Worte erinnern an etwas, was Van Veen gar nicht ist. Er ist kein Star im herkömmlichen Sinne. Ein Star, der mit ein paar Flashern in der Hitparade zum Kassenmagneten wurde, der in einer gigantischen Light- und Trickshow auf Effektfang geht, wo alles super, super und damit irgendwo gelackt und leer wirkt.

So versuche ich, zu erzählen, was im Stadtgarten passierte. Rege Betriebsamkeit vor dem Konzert. Rainer Koczwara von der Initiative für Musik und Kleinkunst war ein einziges Nervenbündel. Den ganzen Tag über war er schon im Saal gewesen. Aufbau, Sound- Check.
Stimmt alles. Die Stühle reichen nicht, die Besucher drängen. Ausverkauft. Ist alles hinterm Vorhang in Ordnung, stimmt es mit der Beleuchtung? Und auch sonst war alles ein bißchen anders als bei anderen IMK- Veranstaltungen. Zum erstenmal war es gelungen, einen richtigen Star aus dem Ausland nach Gmünd zu lotsen. Vielleicht der endgültige Durchbruch für die emsigen, jungen Leute. Mit hervorragend organisierten Konzerten, mit dem Konzert eines Van Veen und mit dem neuen Stadtgarten läßt sich Werbung machen - damit auch die Manager anderer großer Leute, bedeutender Gruppen ihre Scheu verlieren, in die vielgeschmähte Provinz zu gehen.

Es ist kurz nach 20 Uhr. Das Licht geht aus. Hinten am Eingang taucht er auf. Groß, schlank, hageres Gesicht. Er trägt einen Frack, der ihm nicht so recht zu passen scheint. Ein Geigenkasten baumelt lässig auf dem Rücken, fast in Höhe der Knie. "Herman", ruft eine Stimme. Van Veen springt auf die Bühne, gefolgt von seinen Musikern. Nard Reijnders spielt das Saxophon, Cees van der Laarse zupft den langhalsigen Baß, Chris Lookers überzeugte durch seine Harmonien auf der Acoustic-Guitar, Erik van der Wurff schließlich spielt schon seit 1967 mit Herman Van Veen zusammen.
Der Pianist teilt mit Van Veen zusammen den Louis-David-Preis der Niederlande für das beste Lied des Jahres 1978 ("Weg da"). Van Veen übrigens ist im Besitz der höchsten Auszeichnung, die das niederländische Kulturleben überhaupt zu vergeben hat: den Davidring, der nach dreißig Jahren an ein anderes, großes Talent der Bühne weitergegeben werden muß.

Ein Abend mit Herman Van Veen, das bedeutet, hin- und hergerissen sein zwischen Euphorie, Melancholie bis an die Grenze der Depression. Es darf gelacht, es müssen Tränen unterdrückt werden. Nein. Rührseliges hat da keinen Platz. "Für stocktaube Ohren reicht ein Hundert-Watt-Verstärker nicht aus, um zu hören, wenn ein Mensch in Not ist." Zitat aus einem alten Lied Van Veens aus der LP "Unter uns". Wer Probleme in der unverbindlichen Verpackung deutscher Songs zu hören pflegt, ist bei Van Veen im Konzert ebenso fehl am Platze wie ein Teenager, der eine Rockshow erwartet.

Van Veen ist einer der wirklich wenigen großen Menschen auf der Bühne, der das lebt, was er besingt. Mißverstanden müßte er eigentlich "Wendemachern" ins Konzept passen. Er ist Familienvater, aus Überzeugung. Nirgendwo gibt es laszive Anspielungen auf Promiskuität. Seine Botschaft von Liebe und Toleranz ist eine zutiefst christliche. Nur, eben, laue Unverbindlichkeiten schöngeistiger Reden, moralinsaure Predigtmentalität hat da keinen Platz., Van Veen ist ein Meister der Sprache, ein Poet im wahrsten Sinneides Wortes (der uns sicher mehr zu sagen hat und es sicher besser sagen kann als alle klassische Schöngeistigkeit zusammen) - aber er ist direkt; kompromißlos offen.

Er steht auf der Bühne des Stadtgartens und schreit mit überschnappender Stimme seine Verzweiflung über den Raketen Wahnsinn hinaus. Gespenstisch, wenn er den "Diktator" mimt. Übergangslos aus dem Beifall der Zuschauer heraus - und das ist das Bedrückende - entsteht das Szenario, wo dei Diktator wie ein Dirigent die Ovationen dei verblendeten Massen steuert. Die letzte Nummer vor der Pause heißt "Theatre Nucleai Force". Van Veen karikiert den lässig-liebe vollen Umgang der Amerikaner mit ihren Vernichtungspotential (nicht umsonst wer den Flugzeuge bemalt, erhalten Maskottchen namen, und die Bombe heißt dann "Bird"). Als US-Offlzier erklärt er lakonisch, daß es ir Deutschland "no Problems" gibt - bis die Bombe fällt und er sich ängstlich in den Kinderwagen verkriecht, der auf der Bühne steht.

Derart drastische Szenarien lassen aber die Leute im Saal nicht in die Leere der Verzweiflung fallen. Geschickt fängt Van Veen die Fallenden auf mit einer nächsten Nummer, die von clownesker Heiterkeit getragen ist. Gleichgültig, ob nun ein Politikum wie ein Hammer in den Saal schlug oder ob es "nur" um menschliche Einsamkeit im allgemeinen ging. Van Veen wird plötzlich zum Derwisch, der über die Bühne steppt, hüpft, tänzelt wie ein Ball. Oder er stelzt im "Kleid" der Diva umher (einziges Accesoire: hochhackige, rote Damenschuhe) oder er veräppelt mit Schmollmund klassisches Bluesgedudle ("Has got the blues"). Wahrlich, er ist ein Universalgenie, er ist Harlekin, Clown, Mime, Musiker, Dichter, er ist ein Zauberer.

Im Stehen applaudierten die Gmünder am Schluß. Doch es war noch lange nicht das Ende. Zugaben bestehen bei Van Veen nicht bloß aus weiteren zwei, drei Liedern. Van Veen bedeutet, daß man doch endlich mit dem Beifall ein Ende machen soll - indem er nach zig Verbeugungen schließlich hinterm Vorhang vorrobbt. Dann aber beginnt er wieder zu singen, zu spielen, zu tanzen. Verschwindet wieder, kommt wieder, steigt schließlich ins Publikum hinab, geht durch die Reihen, schüttelt Hände, verschwindet durch den Saalausgang. Das Licht geht an, man drängt nach draußen, vorne applaudieren immer noch unentwegt einige Wenige. Van Veen kommt wieder. Geht wieder. Schließlich machen sich alle auf den Heimweg.
Da taucht er noch einmal auf.
Im Bademantel.
Und singt weiter.



Helmut Bredl