Neue Zürdjer Zeitung
M.D.

Heimlicher Anarchist

Hermann van Veen auf Europatoumee im Stadthof 11

5. November 1993

ZÜRICH

M. D. Applaus, Applaus, grenzenlose Begeisterung. Sie legt sich dem Künstler als Teppich unter die Füsse, trägt ihn nach vorne, durch den Zuschauerraum auf die Bühne. Dort steht er, mit einem zur Tulpe gestülpten Regenschirm, eine schwarz gekleidete Gestalt im Schein eines Vollmondes - aufgehoben zwischen seinen langjährigen Arrangeuren und Komponisten, dem Tastenmann Erik van der Wurff (Piano, Synthesizer) und Nard Reijnders (Saxophon, Klarinette, Akkordeon). So lässt sich Hermann van Veens blaue Stunde im Stadthof 11 an, in einer melancholischen Note mit Kalkül.



Und wer den Holländer nicht gesehen, nicht gehört hat, keine der begehrlichen Karten für die beiden Vorstellungen mehr erhielt, muss es hiermit bewenden lassen: mit der Vorstellung einer Vorstellung, prickelnd von Poesie, sperrig an Anarchie. Van Veen, das Kind («ich bin ein Nie-Erwachsener»), spielt mit den Erwartungshaltungen seines Publikums nicht weniger virtuos als auf seiner Geige; und um nicht festgelegt zu werden, in keinem Fach Wurzeln zu schlagen, wechselt er unvermittelt die Tonart, brüsk und schonungslos. Keine (Hör-)Ge-wohnheiten, bitte.

Ein Harmoniebedürfnis kennt er nicht, zumindest kein versöhnlich-falsches.

Van Veen, die Fakten: Geboren 1945 in Utrecht, studiert er die Fächer Geige, Gesang und Musikpädagogik. Inspiriert von der Commedia dell’arte, debütiert er mit einer clownesken, musiktheatralischen Einmannshow, die den Grundstein legt (und fugenlos fügt sich nun Stein auf Stein) einer internationalen Karriere. 50 CD in vier Sprachen hat der «Sänger, der ein bisschen den Clown spielt», bis heute veröffentlicht. Er gastiert im Hamburger Schauspielhaus mit ebensolcher Nonchalance wie in der Carnegie Hall in New York, im Ambassador Theatre am Broadway, im Pariser Olympia. Dort erweist er seinen musikalischen Vorbildern Reverenz: Brei, Mon-tand, der Piaf, Lennon, Josephine Baker, Freddy Mercury - und Walther von der Vogelweide. Van Veen hat sein Publikum in Tokio, in Hongkong, in Singapur, in Moskau. .Nebst* seinen Liedern schreibt er Film- und Ballettmusik, (Kinder-) Bücher, ist während 25 Jahren Botschafter der Unicef und engagiert sich für die Ärmsten der Armen in Gesundheits- und Umweltprojekten.

Einzig hier kann eine definitorische Annäherung an den Künstler stattfinden; van Veen ist Menschenfreund mit einem zärtlichen Gefühl für alles Schwache. Davon singt er, darüber schreibt er, in diesem Sinn benutzt er sein Publikum. Wenn er etwa als Spottdrossel und Umweltschutz-Mimose an der Welt leidet, sind wir seine Klagemauer, die er indes - wenn Rührseligkeit droht - flugs mit unsittlichen Bildern behängt: ein Leichenfledderer wider jedes Fein- und Schamgefühl.
(Zum Beispiel wünscht er sich seinen eigenen Tod «jung und stark», im roten Mercedes, um im selben Atemzug seinen Spass zu haben am Todesurteil Aids, das ein Arzt einem untreuen Familienvater telefonisch mitteilt: «Die gute Nachricht vorneweg: Sie haben noch 24 Stunden zu leben. Die schlechte: Ich habe ich sie den ganzen Tag über nicht erreicht.») Auch das ist van Veen. - «Was du nicht fühlst, das kennst du nicht», singt er in einem seiner programmatischen Lieder. In Zürich hat er sich uns als Humanist entdeckt.

Der Narr ist nicht zur Vernunft zu bringen - hoffentlich.



M.D.