Spectramet
Thomas Garms

Herman van Veen:

Poet und Zaubermeister der Gefühle

3 feb 1985

Er strahlt etwas von einem modernen Eulenspiegel aus, wenn man ihn auf der Bühne erlebt. Faszinierend dicht gebündelt treffen Musikalität, Charme, Witz, Ausstrahlungskraft und Phantasie aufeinander. Das Trumpfas des holländischen Entertainers ist seine Vielseitigkeit. Er schreibt Lieder, singt, dreht Filme, tanzt, parodiert und tritt ein für eine humanere, bessere Welt. Ein Mann mit ebensoviel Idealen wie künstlerischem Naturtalent, ein Lebensphilosoph, der nicht nur redet, sondern auch handelt.


Donnerstag abend in der Alten Oper Frankfurt. Im prunkvoll renovierten Musentempel der Mainstadt geht das Licht aus. Zehn nach acht. Der Scheinwerfer erfaßt einen Mann in einem alten Frack, der langsam mit seiner Violine durch die Zuschauerreihen nach vorne kommt. Ein Sprung auf die Bühne. Beifall. Herman van Veen läßt den Bogen über die Saiten streichen, stimmt eine melancholische Melodie an.

Tausendfach verstärkt tönt sie aus riesigen Lautsprechern, die an den Bühnenrändern aufgebaut sind. Plötzlich setzt er sein Instrument ab. Doch die Musik erklingt weiter. Verwundert dreht der Künstler seinen Kopf. Erst nach links, dann nach rechts. Hastig springt er von Box zu Box, hält sein Ohr dicht an die schwarzen Ungetüme, zuckt mit den Schultern. Woherdie Töne wohl kommen? "Was hat das zu bedeuten? Ich spiele doch gar nicht!" scheint Herman zu denken.

In Zeiten, in denen das Playback perfekte Illusionen einer vermeintlich lebendigen Klangkunst liefert, wo niemand mehr weiß, ob der Interpret auf der Bühne tatsächlich das tut, was er vorgibt, seinem Publikum zu präsentieren, will der holländische Harlekin ein Zeichen setzen.

Das erste Zeichen aus einer ganzen Reihe von Zeichen. Zeichen heißt auch Signal. Und "Signale" ist der Titel für das neue Programm, das Herman van Veen auf einer umfangreichen Konzertreise durch Europa präsentiert.

Der erstaunte Blick, die suggerierte Frage, warum aus den Boxen eine Melodie ertönen kann, obwohl er doch überhaupt nicht auf seiner Geige spielt, soll in einer kleinen komödiantischen Szene die Künstlichkeit und oft auch Verlogenheit der glitzernden Showwelt demaskieren. Van Veen gestattet auf spaßige Weise einen Blick hinter dieKulissen, umzuzeigen, wie ernst er es meint: Alles ist Theater. Doch das Theater läßt es zu, den Menschen den Spiegel vor das Gesicht zu halten, sie mit sich selbst und ihren Schwächen zu konfrontieren, und das Publikum trotzdem zu unterhalten, ja zu amüsieren.

So stänkert er im ersten Lied gegen selbsternannte Friedenspropheten, die die Zeitungen verkünden lassen, daß alle halb so schlimm sei, daß die Angst vor der atomaren Apokalypse überflüssig sei: "Wir fühlen uns ganz schön bedroht / und das weiß Gott nicht ohne Grund / und nun schreibt plötzlich ein Idiot die ganze Welt ist kerngesund". singt er und warnt so indirekt vor dem trügerischen Leichtglauben, die Bombe werde schon nicht fallen.

Von dem provokativen Anfang schlägt er, von den zurückhaltend-durchdachten Klängen seiner vierköpfigen Band begleitet, den Bogen zu einer gefühlvollen Hommage an die große Chansonette Edith Piaf oder imitiert unter viel Gelächter einen armen Tropf, der mit Pingpongbällen tolpatschige Zauberkunststückchen vorführt. Herman van Veen gleicht aus: Hier die harte Gesellschaftskritik, dort zarte, fast sentimentale Balladen und lustige Parodien. Doch man hat sich gerade wieder gemütlich zurückgelehnt und lauscht versonnen einem ruhigen Wiegenlied, als das Unerwartete passiert: Mit dröhnendem Getöse, Rauch und grellen Blitzen fällt zum Ende der ersten Programmhälfte doch noch die Bombe, die man schon längst vergessen hatte.

Der Künstler springt ängstlich in einen alten Kinderwagen, was in seiner Lächerlichkeit anmutet wie der Bau von Atomschutzkellern unter dem heimischen Gemüsebeet. Vorhang-das Saallicht geht an, der Schock steht den Zuhörern auf das Gesicht geschrieben.

Nach der Pause freilich kehrt Herman van Veen als Straßenfeger auf die Bühne zurück und räumt mit seinem Besen den Schutt des inszenierten Weltuntergangs beiseite. Eifrig sammelt er Papierschnitzel auf, trägt Sachen herum, bis er plötzlich eine rote Clownsnase entdeckt. Er zieht sie sich vorsichtig über, macht ein paar behutsame Schritte, tanzt und stellt nun seine Sehnsucht dar, ein Clown zu sein.

Herman van Veen, der sein Publikum in ein Wechselbad der Gefühle stößt, die Zuschauer schockt und im gleichen Augenblick mit einer humorvollen Pointe wieder versöhnt, ist ein Meister der steten Verwandlung. Er kann sich glaubhaft und voll beklemmender Ausdruckskraft in die verschiedensten Situationen hineindenken, gleichgültig, ob er einen ausländischen Arbeitslosen spielt, der bei der Jobsuche händeringend all seine Fähigkeiten anpreist unddoch immer wieder abgelehnt wird, oder sich in ein kleines, linkisch tanzendes Mädchen verwandelt und plötzlich ein kraftmeierndes russisches Sauflied anstimmt. Mit seiner sparsamen, gleichwohl wirkungsvollen Körpersprache stößt er in Bereiche vor, wo Kunst und Wirklichkeit eins werden.
Mimik, Gestik und Bewegung sind stärker als die aufgeblasenen Worte mancher Liedermacher, die jammernd ihr Süppchen auf dem Schwefelfeuer allgegenwärtiger Protestbewegungen kochen. Der Niederländer trifft in die Herzen seiner andächtig lauschenden Fangemeinde, ohne durch Verbalinjurien und ideologische Allgemeinplätze die Ernsthaftigkeit seiner Aussagen zu gefährden.

Am nächsten Tag. Mit einem gewinnenden Lächeln kommt er aus dem Aufzug des Frankfurter Hotel Intercontinental. Ein bequemer Baumwollpulli, graue Flanellhose. Essenszeit. Wir gehen in die Rotisserie. Herman van Veen wählt eine Fleischbrühe, etwas Lachs auf Toast und trinkt - da ist er ganz Holländer - Unmengen Kaffee, während wir über seine Arbeit, seine Ideen, sein Leben plaudern. Auf die Frage, wie er die vielseitigen Aktivitäten vom Geigespielen bis hin zum Filmemachen unter einen Hut bringe, weiß er keine glatte Antwort. Außer, daß dies vordergründig nach viel aussehe, er aber beispielsweise jetzt während der Tournee ganz für die Abende auf der Bühne lebe, tagsüber allenfalls organisatorischen Kleinkram erledige und ein wenig schreibe. "Ein Fabrikarbeiter, ein Handwerker, der arbeitet vielleicht sogar mehr, und niemand ist erstaunt darüber."

Dennoch: Herman van Veen steht nie still.
Ergibtsich nicht mit einer Fertigkeit zufrieden. Schon während er Geige studierte, nahm er nebenher Gesangsunterricht und machte gleichzeitig sein Lehrerdiplom. Sein Freund und Komponist Eric van der Wurffsagt: "Herman verläßt sich nicht auf angelernte Kenntnisse, sondern nur auf sich selbst, auf seinen untrüglichen Instinkt. Er ist alles gleichzeitig, und er ist immer in Bewegung, immer unterwegs. Er sucht immerzu nach etwas anderem, als dem, dessen er sich im Moment gerade sicher ist."

Der Drang, etwas Neues zu lernen, zu experimentieren, entstehe aus der "Notwendigkeit, ein bestimmtes Thema mit den Mitteln anzupacken, nach denen der Stoff verlangt", erklärt der Künstler, während er der Bedienung winkt, ihm frischen Kaffee einzuschenken. Ärgert er sich beispielsweise über den hinter einer salbungsvollen Predigt versteckten Opportunismus mancher Pfarrer, schaut er diesen Geistlichen so lange auf die Lippen, bis er sie treffend nachmachen kann.

So nähert van Veen sich einer ungewohnten Situation genauso unbedarft wie einem neuen Instrument. Dann spielt er Saxophon, das er noch nicht gelernt hat, und versucht sich in Kinder hinein zu denken, obgleich er bald den vierzigsten Geburtstag feiert. "Zur Zeit arbeite ich an einem Kinofilm mit dem Titel .September" ", läßt sich Herman entlocken, als wir auf seine neuen Projekte zu sprechen kommen. Zögernd erklärt er, daß dei Streifen eine ironische Lie besgeschichte werden soll "Es geht um einen jungei Mann und eine junge Frau die beide im Theatergeschäf arbeiten und zusammen eil Stück schreiben wollen. Ii diesem Stück wollen sie klar machen, daß sich trotz de technischen Fortschritts ir Umgang der Menschen mii einander wenig zum Besseren hin verändert hat. Bei der Auseinandersetzung mit det Thema stellen sie allerdings fest, daß all das, wassie kritisieren wollen, auch für sie selbst zutrifft."

Von Herman van Veen stammt nicht nur das Drehbuch,er hat auch die Filmmusik komponiert, wird Regie führen und die männliche Hauptrolle neben Eva Mattes spielen. Die Arbeit mit und vor der Kamera fasziniert den holländischen Allesmacher schon lange.

1977 drehte er für das Deutsche Fernsehen eine sechsteilige Kinderserie mit dem Titel "Die seltsamen Abenteuer des Herman van Veen". Sein erster abendfüllender Spielfilm "Auseinander" entstand zwei Jahre später. Zusammen mit Monique van de Veen spielte er die Hauptrollen und sang mit ihr den selbstgeschriebenen titelsong "Auseinander".

Niemand aus Hermans Familie im Utrechter Vogelviertel hätte gedacht, daß aus dem schlanken, sensiblen Sprößling mal ein so launiger Tausendsassa wird, der sogar im fernen Amerika, am Broadway, dem Mekkader geschliffenen Unterhaltungskunst, bestaunte Gastspiele gibt. "In meiner Verwandtschaft beschäftigte sich keiner mit Musik, Theater oder Tanz. Meine Vorfahren waren alle Kaufleute, Arbeiter, Marktleute und Hausfrauen. Die Frauen so, wie man sie sich vorstellt, Arme verschränkt, Schürzeum, wartend vordem Haus, bis du aus der Schule kommst, TäßchenTee, Zwieback, jeden Tag saubere Unterwäsche, einmal in der Woche in den Waschzuber auf der Spüle. Es ist eigentlich seltsam, der einzige, der bei uns in der Familie etwas Kunstsinniges machte, war mein Opa mütterlicherseits. Er war Billiardspieler und spezialisiert auf Kunststöße."

Trotzdem meldete sich Herman van Veen 1962 am Konservatorium seiner Heimatstadt an und belegte Allgemeine Musikerziehung, Geige und Gesang. Bereits als Student gab er mit dem Pianisten Laurens van Rooyen Liederabende und machte mit seinem Kabarettprogramm "Musikjoke" auf sich aufmerksam. 1967 legte er sein Examen ab und stellte im Herbst des gleichen Jahres in Tivoli in Utrecht seine erste One-Man-Show vor, ein musikalisch-satirisches Theaterprogramm mit dem Titel "Harlekijn". Es folgten verschiedene weitere "Harle- kijn"-Programme, in denen sich das Hauptthema zusehends in eine mehr gesell- schafts- und sozialkritische Richtung verschob. Vor fünfzehn Jahren gründete Herman van Veen dann eine Mul- ti-Media-Produktionsgesell- schaft mit dem Namen,, Har- lekijn", die knapp fünfzig Angestellte beschäftigt und als kleine Kulturfabrik an Theateraufführungen und an Schallplattenproduktionen, Büchern und Zeitschriften beteiligt ist. ln dieser Firma, die in dem ehemaligen Rathaus von Westbroek, einem Dorf in der Nähe von Utrecht, untergebracht ist, werden nicht nur die Programme der Van-Veen-Tourneen vorbereitet, auch hat sich "Harlekeijn" durch die systematische Förderung von jungen talentierten Malern, Musikern und Schauspielern hervorgetan.

1969 brachte der Norddeutsche Rundfunk erstmals eine Sendung über Herman van Veen, drei Jahre später trat er in einer Fernsehserie über die holländische Kleinkunstszene auf. Doch der erste Schritt für den Durchbruch auf dem deutschen Markt war, als er 1973 sein Debütalbum in deutscher Sprache mit dem Titel "Ich hab ein zärtliches Gefühl" auf den Markt brachte. Mit den darauffolgenden Tourneen konnte er sich schnell zum Publikumsfavoriten entwickeln. So besuchten seine zweite Deutschlandtournee 1979 mehr als 53000 Zu- schauerin29Konzerten. 1981 gab Herman van Veen insgesamt zehn Konzerte im Hamburger Congreß Centrum und kassierte für das Programm landauf, landabüberschwengliche Kritiken.

Mittlerweile gibt es dreißig holländische und fünfzehn deutsche Langspielplatten von dem Entertainer; zahlreiche Bücher, Ballettstücke sowie vier Schauspiele festigten seinen kreativen Ruf. Eine stolze Bilanz, die letztlich durch eine bemerkenswerte Auszeichnung geadelt wurde. So bekam er von dem berühmten holländischenThea- terschauspieler Wim Kan den "Louis-David-Ring" verliehen. Kan hatte den Ring, der traditionsgemäß von einem großen Theatertalent an einen anderen herausragenden Künstler weitergegeben wird, zwanzig Jahre lang besessen. Mit Herman van Veen entschied er sich für einen würdigen Nachfolger, der das Schmuckstück nun seinerseits innerhalb von dreißig Jahren an einen anderen herausragenden Künstler weitergeben wird. Doch all diese Lorbeeren scheinen dem Zaubermeister der Poesie fast egal, wenn das Gespräch auf sein Engagement für die Benachteiligten dieser Weltkommt. Van Veen redet nicht nur vom sozialen Engagement, er praktiziert es. Deshalb ist er gemeinsam mit der Schauspielerin Liv Ullman als Botschafter für das Kinderhilfswerk "Uni cef" unterwegs. Gleichzeitig gründete er die Stiftung "Colombine", die in der Dritten Welt alternative Entwicklungshilfe leistet.
Statt anonym Spendengelder zu überweisen, kauft "Columbine" zum Beispiel philippinischen Handwerkern Waren zum Marktpreis ab. Auf diese Art sollen Hilfsbedürftige erfahren, daß sie sich auch selbst helfen können. "Sinnvoll helfen können Menschen einander nur, wenn sie mehr voneinander wissen", erklärt Herman. Aus diesem Grund versuche er,
"Wissen zu verbreiten und den Kindern der Dritten Welt Informationen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft spielerisch zu vermitteln, durch Fernsehfilme und auf Schallplatten." Herman van Veen, dessen Kreativität sichanden Widersprüchlichkeiten der modernen Gesellschaft entzündet, will seine Gastspiele benutzen, um für mehr Verantwortungsbewußtsein dem Nächsten gegenüber zu werben.

Er glaubt ein Wundermittel zu kennen, das viel verändern könnte. Fast beschwörenderklärt er nach der fünften Tasse Kaffee: "Wenn alle Menschen ihre Energie kollektiv und positiv verwenden und sich dessen bewußt sind', erst dann kann man von Zivilisation sprechen."
Dieser ebenso einfache wie ein leuchtende Leitgedanke läßt ihn nicht mehr los. Weil Herman van Veen davon überzeugt ist, daß man Gedanken auch über den Bühnenrand hinweg durch Suggestionskraft leiten kann, bohrt er penetrant in den Wunden der Welt, will er aufrütteln und dazu anregen, die eingefahrenen Gleise zu verlassen.

Deshalb gibt es für ihn nichts Wichtigeres, als zu spielen, zu spielen, zu spielen.



Thomas Garms