GENERAL-ANZEIGER FUER BONN
Heinz Dietl

Phantasie ohne Grenzen

1 marz 1989

Als die Soldaten der deutschen Wehrmacht durch die nassen Straßen Hollands marschierten, lag der kleine Herman noch im Bauch der Mutter und wartete. Vierundvierzig Jahre später steht er auf einer deutschen Konzertbühne und telefoniert mit der Frau Mama, um sie zu beruhigen: „Nein, Mutter, die Deutschen sind heutzutage sehr nett zu uns. Außerdem gibt es hier viele Amerikaner, die die Leute bewachen“. Deutsche und Amerikaner spielen eine gewisse Rolle im aktuellen Live-Programm des singenden Holländers.


Auf dem kahlen Teil seiner unverwechselbar hohen Stirn balanciert Herman einen Fußball. Die rechte Hand zeigt zwei ausgestreckte Finger, die linke nur einen. 2:1, das war ein harter Schlag für den deutschen Volkssport Doch das Final-Ergebnis der letzten EM ist irreversibel. Insofern tut uns der Sketch auch nicht weh. Dem kleinen Nachbarn sei der Triumph gegönnt

Die beiden Nationen paktieren sogar miteinander, wenn es um die Abwehr des amerikanischen Kultur-Imperialismus geht Herman van Veen untergräbt die banalen Riten seiner Kollegen aus bersere, ie sich bei internationalen Gastspielreisen Tag für Tag dem „besten Publikum der Welt“ anbiedern. Die Floskel „You’re so nice“ wird von van Veen durch sämtliche Spielarten populärer US-Musik variiert Zwischen Swing und Scat, Blues und Rap macht er sich über die sinnentleerte Phrase lustig und schließt die Attacke mit einem kleinen Leberhaken in Richtung Bobby McFerrin ab: „Das Wasser tobt, die Erde bebt es gibt kaum einen Baum der lebt -don’t worry, be happy“.

Das sitzt zwar, aber nicht verletzend tief, denn Herman van Veen ist weder Kabrettist noch Lästerer. Die wenigen politischen Momente im aktuellen Programm sind, als Ausdruck eines bekanntermaßen kritischen Weltbürgers und -Beobachters, sicherlich ernst gemeint und ehrlich, doch ist van Veen viel zu sehr Clown und Phantasie-Prophet, als daß er eine ganze Show auf Satire ausrichten würde.

Herman von Veen verkörpert ein Stück objektiver Wahrheit Sowenig, wie er seiner ganz persönlichen Phantasie Grenzen setzt so grenzenlos ist die menschliche Phantasie schlechthin. Der Mann aus Utrecht beherrscht nahezu alle Formen künstlerischen Ausdrucks. Wenn er, zwischen zwei Liedstrophen, über die Bühne schreitet so ist das kein Gehen, sondern Pantomime. Seine Musik (unterstützt von Keyboards, Bass und Saxophon) kennt keine Berührungsängste, sein Gesang zeugt vom hohen Niveau einer klassischen Ausbildung.
Er spielt perfekt Geige und Klavier, und er weiß um die Suggestivkraft von Bühnenbild, Requisiten und Licht Diese Vielseitigkeit stößt auf Gegenliebe. Sechs (!) Monate dauert Herman van Veens aktuelle Tournee durch die Bundesrepublik. 1400 Besucher kamen zum ersten von insgesamt vier Konzerten in der Beethovenhalle. Wenn Herman van Veen morgen abend zum Ausklang des Gastspiels sein „Wer erklärt mir das“ vortragen wird, werden ihn knapp 6000 begeisterte Bonner Fans gesehen haben.
Ein Phänomen.



Heinz Dietl