Frankfurter
VERENA SCHMITT

Die Welt ist verrückt, oder ist man’s nur selbst?

Schleusenwärter der Gefühle: Herman van Veen in der Alten Oper

mei 1993

FRANKFURT. Es ist zehn vor elf, und die Leute wollen nicht gehen. So öffnet sich der Vorhang noch einmal vor dem Herrn mit den schütteren Engelslöckchen. Das zerfurchte Gesicht ist nun regungslos, ohne Lächeln, ohne Faxen - ein neutrales Territorium. „In acht Monaten ist wieder Weihnachten“, sagt er. „Deshalb singe ich jetzt ein Weihnachtslied.“ Gelächter. „Vielleicht, um uns alle daran zu erinnern, daß Josef und Maria auch Flüchtlinge waren.“ Stille. Es ist nichts, wie es scheint, und alles kommt anders, die Welt ist verrückt, oder ist man's nur selbst? Das ist die Frage des Herman van Veen.


Was gibt’s Neues vom Holländer, der seit mehr als 20 Jahren in Deutschland auftritt, der nun seit einem Jahr mit seinem jüngsten Programm unterwegs ist, der in der Alten Oper Station machte, um seine vorläufig letzten drei Konzerte in Deutschland zu spielen? Die Antwort ist: wenig. Außer vielleicht der überraschenden Erkenntnis, daß dieser Mann immer noch tut, was er immer tut, und das gut.

Es ist dieses ständige Wechselbad der Gefühle, das Herman van Veen hervorruft wie kein anderer. Wie ein Schleusenwärter kontrolliert er die Fluten, die über sein Publikum schwappen, von Weinerlichkeit und Gelächter, von Hochgefühl und Absurdität, von Großem und Nichtigem. Einen Journalisten läßt er den steinalten Pianisten fragen, warum denn die Tasten seines Instruments so gelb seien? Das liegt nicht am Alter, sagt der, der Elefant hat so viel geraucht. Da lacht Herman selbst, der Clown macht seine Späße. Dann schnippt er mit den Fingern. Plötzlich wird Herman ernst, der Pappmond am Bühnenhimmel wird rosig. Er singt in seinem sanften, wohlgeformten Tenor „Bleib bei mir“. Er meint, was er sagt. Es ist Pause.

Herman van Veen zeigt immer mehr von sich. Zunächst geht der Hut, er beugt zum Applaus die glänzende Glatze ins Rampenlicht. Dann fehlt das dunkle Jakkett, dann die Weste. Er krempelt gar das Hosenbein hoch. Doch seine Seele entblättert er nie. Er wolle die Menschen zu dem mitnehmen, was ihn bewegt, sagt er (F.A.Z. vom Samstag). Doch was bewert diesen Mann hinter der Clowns-Maske wirklich? Er läßt die Zuhörer allein mit dem vagen Gefühl, die Wirklichkeit sei verwirrt, was aber seltsamerweise ohne Belang scheint: Inmitten des Ganzen zählt ohnehin nur der Mensch, vermittelt van Veen.

So sind denn alle Lieder gespielt. Seine fabelhaften Musiker, die alten Weggefährten Erik van der Wurff und Nard Reijnders, die längst mit eingetaucht sind in die Scheinwelt des Herman van Veen, haben diese aufs neue reproduziert, in den sanften Farben des Pianos, im betörenden Klezmer der Klarinette. Die Späße sind gemacht, das Kaninchen aus dem Hut gezaubert, der übergroße Teddybär auf der Bühne umarmt und geküßt. Doch die Leute wollen nicht gehen.

Es ist zwanzig vor zwölf, und die Leute wollen noch immer nicht gehen. Der Mann mit den Engelslöckchen kommt ein letztes Mal, mit einer Kaffeetasse. Da gab es ein Lied, sagt er, vor zwanzig Jahren, das erste, was er überhaupt auf deutsch sang, kannst du dich daran errinnern, fragt er seinen Pianisten. Es folgt Kramen in Notenblättern und Texten. Dann ein letztes Mal der sanfte Tenor, dieses eigenwillige Dehnen und Verschlucken der deutschen Silben. „Zeit zum Schlafen“, endet das Lied - perfekte Inszenierung auch hier. Van Veen faltet die Hände, bettet darauf die Wange, der Vorhang geht zu. Besänftigt entläßt er das Publikum.

(Herman van Veen ist noch einmal heute abend um 18 Uhr in der Alten Oper zu sehen und zu hören.)



VERENA SCHMITT