OSTHOLSTEINER ANZEIGER
Andreas Filke

Herman van Veen faszinierte sein Lübecker Publikum

Blick in den Spiegel schmerzt

5 nov 1988

LÜBECK. Er ist ein einfühlsamer Schauspieler, ein geistreicher Harlekin. Die Kunst der beißenden Ironie versteht er so meisterhaft, daß viele Besucher seines Konzerts erst im zweiten Anlauf merken, was die Stunde geschlagen hat. Knallhart hält er ihnen den Spiegel des Lebens vors Gesicht, sich selbst vergißt er dabei nicht. Herman van Veen, das Multitalent aus Holland, meldete sich Donnerstag und Freitag abend nach mehrjähriger Abstinenz von der Bühne in der Lübecker Hansehalle zurück.
Drei Stunden lang zog er sein Publikum in Bann.



Entwaffnend offen fragte er seine Zuhörer nach ihrem Verhalten anderen Menschen gegenüber. »Und du? Und du?« Der Spiegel reflektierte das gleißende Scheinwerferlicht auf einzelne im Auditorium. Keiner konnte sich den bohrenden Fragen entziehen. Umso überraschender kam die Wende. »Und ich?«. Herman ließ sich nicht aus.

Wie ein roter Faden zog sich dieser Gedanke durch den gesamten ersten Teil seines Konzertes. Aber war es überhaupt ein Konzert? War es nicht mehr ein gelungenes Schauspiel? Oder eine phantasievolle, exzellent vorgetragene Posse? Nur schwer läßt sich der niederländische Entertainer fassen, geschweige denn in eine Schublade zwingen. Immer wieder bricht er aus gesellschaftlichen Zwängen aus. Nicht umsonst nennt er seine Tournee »Bis hierher - und weiter«.

Im letzten Kriegsjahr, im März ’45, erblickte der Sohn eines Typographen, der sich während des Krieges im Widerstand betätigte und seine Hände mit Phosphor übergoß, damit er nicht zum Arbeitsdienst mußte, das Licht der Welt.
Selbst in jungen Jahren nahm er kritisch die Phase des Aufbaus und nicht zuletzt der Aufrüstung unter die Lupe. »Ich hoffe, daß du, genauso wie ich, niemals lernen mußt, wie man einen Menschen tötet«, gab ihm sein Vater mit auf den Weg. In jedem seiner Lieder spürt der aufmerksame Zuhörer diese Devise.

Van Veens Stücke sind geprägt von einer Hoffnung, die selbst angesichts der bedrohlichsten Situationen nie zu zerbrechen scheint. Er setzt alles daran, den Menschen rechtzeitig die Augen zu öffnen, muß aber oftmals erkennen, wie er scheitert. Verständlich der Wunsch »Wär’ ich ein Zauberer«, dann sei die Welt heil und alle Menschen wären Freunde.

Freunde waren es auch meistens, die den Holländer in Lübeck sehen wollten. Nur rund 800 Menschen fanden am Donnerstag den Weg in die Hansehalle. Sie mußten jedoch angesichts des Bauwerkes einiges erleiden. Es zog an allen Ecken und Kanten, und wer von den hinteren Reihen des Parketts aus etwas sehen wollte, mußte seinen Hals ordentlich recken. Schade für sie, schade auch für Herman van Veen.

So sprang trotz aller Mühen seiner sehr guten Mitstreiter Nard Reijnders, Erik van der Wurff, Cees van der Laar-se an den Instrumenten und Elske Lücke als Mitspielerin der zündende Funken erst nach der Pause über.
Mehrmals ließ er sich Zugaben entlok-ken, aber auch diesmal führte er eine gehörige Portion Schabernack im Schilde. Mitten im Lied, das Publikum tanzte bereits vor der Bühne, verschwand er hinter den Kulissen. Sein Gesang blieb. Vollplayback machte es möglich. Doch alles andere war live -und unnachahmlich.



Andreas Filke