NWZ
Stefan Hinder

Der Rolle des Mahners müde

Herman-van-Veen-Gastspiel in Oldenburg: Wenig Inhalte

2. April 1992

Oldenburg. Zugegeben, es ist ungerecht: Während Mozart nach zweihundert Jahren immer noch gespielt wird und der Clown Charlie Rivel ein Leben lang mit der gleichen Nummer durch die Welt zog, unterliegen Kabarettisten, Liedermacher und andere „kritische Entertainer“ einer ungleich schärferen Erwartungshaltung - sie müssen immer etwas Neues machen. Wenn Herman van Veen, niederländischer Sänger, Liedermacher, Tänzer, Poet (. . .), bei seinem Gastspiel in der Oldenburger Weser-Ems-Halle am Dienstag abend letztlich nicht zu überzeugen vermochte, mag es daran liegen, daß er solche Erwartungen nicht erfüllte.


Denn ein Könner ist der 47jährige Niederländer mit der unvergleichlichen Samtstimme ohne Zweifel, ebenso wie seine beiden Mitspieler Erik van der Wurff (Piano, Keybords) und Nard Rejnders (Saxophon, Klarinette, Akkordeon, Keyboards, Percussion). Die Art, wie van Veen Lieder, Tanzeinlagen, Zwischentexte und kleine akrobatische Versatzstücke völlig bruchlos zu einem Ganzen verbindet, ist beispiellos. Auch die Möglichkeiten modernerBühnentechnik nutzt der Meister virtuos.
Ein besonders schönes Beispiel dafür war beim Oldenburger Auftritt eine Traumsequenz, bei der van Veen mittels Echoeffekten die eigene Stimme zu einer an die amerikanische Minimal-Music erinnernden Klangcollage über-einanderschichtete.

Was fehlte, waren Inhalte - eine Tendenz, die sich schon beim vorherigen Auftritt in Oldenburg vor dreieinhalb Jahren andeutete. Wo van Veen früher ebenso zärtlich wie mit spitzer Zunge um Mitmenschlichkeit warb, einfühlsame Szenarien über Arbeitssuchende oder Krebskranke zeichnete, vor Atomrüstung warnte oder verblüffende Möglichkeiten eines Gottesbildes entwarf, sah und hörte man diesmal - nichts. Kleine Zwischentexte hatten durchweg eher den Charakter belangloser Witzchen, und die ausladende Bühnenshow unterstrich keine Aussagen, sondern war über weite Strecken Selbstzweck.
Manche ursprünglich des Publikumsapplauses oder die Inszenierung des eigenen Begräbnisses - waren aufgewärmter Abklatsch aus früheren Shows, hatten ihre Spitzen verloren und wirkten unmotiviert.

Gibt es wirklich keine Themen mehr? Oder ist van Veen der Rolle des Mahners und Kritikers müde geworden? Rein menschlich kann man ihm dies nicht verdenken, und vielen Künstlerkollegen geht es ähnlich. Bloß: In den vergangenen Jahren hat sich ein verhängnisvoller „Zeitgeist“ breitgemacht, der'statt Engagement nur noch Leichtigkeit, Lebensfreude, unmittelbaren Genuß, „Don’t wor-ry, be happy“ propagiert - und damit auf Verdrängung setzt. Dabei wäre es so nötig, daß sich wenigstens einige Künstler gegen diesen Zeitgeist stemmen', statt - wie offenkundig nun auch van Veen - mitzuschwimmen.

Wie dem auch sei: Der Publikumsbegeisterung in der zwar nicht ausverkauften, aber doch gutgefüllten Weser-Ems-Halle taten solche Überlegungen kei-nen Abbruch. Tosender Applaus und „Hermann-Rufe sorgten für die mittlerweile bekannte Inflation an Zugaben - fünf waren es am Ende ... nein, es können auch sechs oder neun gewesen sein, darauf kommt es nicht mehr an.

Auch darin manifestiert sich sicherlich ein Stück Zeitgeist.



Stefan Hinder