Herman van Veen
SH am Sonntag
Die Frau ohne Kopf
29 maart 2009

In meiner Garderobe hangt ein Foto von einer Statue.
Eine aus Gestein gemeißelte Frau ohne Kopf und ohne Hände, starrt, ihre abwesende Hand in ihre Hüfte gestützt, auf das graue Rotterdamer Wasser.
Sie lehrtt auf ihrem rechten Bein und wartet, so glaube ich. Sie ist nackt, hat feste Brüste, einen runden Bauch, kräftige Beine. Steht mit einem Fuß auf eilnem unvollendeten Stück Marmor.

Ja, sie wartet. Auf wen wartet sie und wo ist ihr Kopf?

Was ist mit ihren Händen geschehen? Wie lange steht sie da schon?
Auf alle Falle schon lange genug, um dem Bildhauer Gelegenheit gegeben zu haben, sie so in Stein zu verewigen.
Wartet sie auf einen Seemann, der von seiner Reise zurückkommen muss? Oder auf einen Freund, der in der Fabrik gegenüber arbeitet?
Wartet sie auf einen Kunden, einen Unglücksraben, um ihn für ein paar Gulden von der Spannung in seinem Leib zu befreien?
Ist sie einsam?
Überlegt sie, sich zu ertränken? Wie heißt sie? Woher kommt sie? Hat sie Kinder? Ist ihr nicht kalt?
Sie scheint nicht alt zusein. Ich schätze sie Mitte dreißig, sozusagen in der Blüte ihres Lebens.

Seit zwei Wochen sehe ich sie über meinem Schminktisch stehen. Unbeweglich schön. Sie ist da, wenn ich von zuhause komme oder in der Pause, wenn ich aus der Dusche trete und auch spät nach Ablauf der Vorstellung
Ich rede mit ihr.
Sie schweigt. Und doch scheint es so, als ob sie mich hört. Wenn ich morgen die vorläufig letzte Vorstellung in Rotterdam spiele, werde ich sie, bevor ich den Korridor hinaufgehe, fragen:
„Wartest du vielleicht auf mich?
Ich verspreche dir, dass ich zurückkommen werde."



Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.