Herman van Veen
SH am Sonntag
Sonntag
26 april 2009

Meine Frau ist bei ihren Eltern. Die Kinder sind in ihrem Leben. Ich hör' das Gras wachsen. Meine Gedanken gehen auf Reisen. Nach früher. Zu dem Haus, in dem ich geboren wurde.

Erinnere mich an die Straße. Erinnere mich, dass das Viertel sonntags sehr still war, als ob es nachdachte. Lediglich Menschen von der Pfingstgemeinde schienen dann noch dort zu wohnen. Mit Hüten wie aus alten Büchern und von Pickwick-Teedosen, mit schwarzen Strümpfen, dunkelblauen Jacken. Sie glaubten wieder an einen anderen Gott. An einen Gott der Rache, der Verdammnis und Hölle verhieß.
An einen Gott, der weder Sünde noch Nachbarschaftsfeste liebte. Ein Gott, der scheinbar keine roten Wangen, aber dicke Zöpfe und mattschwarze Binder mochte.

Manchmal fuhr über die Singelstraße ein Kinderlocker auf einemTandem. Der fummelte an Fimmeln herum und ließ seinen wie einen Zauberstab vor unseren verwunderten Augen freihändig steigen.

Noch stiller war es in der Koekoekstraat, wo alle Läden waren. Grotendorst und Jamin, Lubro, mit seinen Spoorpunten, das war Kuchen aus aufgefegten Krümeln, und der Buchladen von Van Boven, der alles hatte, was ich lesen wollte. Jules Vernes stand da.Winnetou, Arendsoog, Pim Pandoer, allesamt mit dem Rücken zu mir.

Später, wenn ich groß wäre, würde ich all die Bücher kaufen. Würde dann nie mehr mit einem Rücklicht und einer Batterie unter der Decke lesen müssen.

In der Duifstraat, die aus pechschwarzem Asphalt war, wohnten noch immer jüdische Leute, Auf sehr kleinen Schuhen. Weil sie, so sagte Frau Verheul, keine Zehen mehr hatten, Die hatten die Deutschen im Konzentrationslager abgehackt oder aufgefressen.

In die Kwartelstraat durfte man nicht kommen.

Dort wohnte der Feind, Dort wohnten die Dämonen, die Fürchterlichen, die anderen. Die Söhne von Vätern, die nicht in Druckereien arbeiteten sondern in Fabriken und bei der Werkbahn.

Dann war da noch Elfriede von der Treppe.
Ein sehr schönes Mädchen. Abgesehen von zwei Dingen.
Sie hatte 0-Beine.
Jedes Mal, wenn sie sich setzte, sah es so aus, als ob jemand ihr Cello gestohlen hatte.
Elfriede, die als allererstes Mädchen auf der Welt Nylonstrümpfe trug.
Nylons mit Naht und fleischfarbenen
Strumpfhaltern.

Ein Hund bellt.
Mama ist wieder zu Hause.
Schrecke aus meinemTagtraum.
„Was ist passiert?" fragt meine Frau.
„Ich bekam Besuch,"
„Besuch?"
„Von ein paar Gedanken




Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.