Herman van Veen
SH am Sonntag
Der Wind
25 okt 2009

Wir fahren durch das hügelige Land von Mecklenburg-Vorpommern.
Wälder, Felder, Seen.
Hier und da ein Fasan, einige schüchterne Rehe, ein Hase, ein Radfahrer, ein Dorf.
Wir wurden auf einer zweispurigen Straße in irrsinnigerweise von ein paar Bekloppten in einem grünen Auto überholt. Gefolgt von einem jaulenden Polizeiauto.

Ein paar Kilometer vor Neubrandenburg wurden wir winkend von einem Jungen begrüßt, der auf einem Hügel seinen Drachen steigen ließ. Bilder strömen durch meinen Kopf. 1951, ich bin sechs Jahre, mein Vater und ich sind im Wohnzimmer damit beschäftigt, aus Holzleisten und Zeitungspapier einen Drachen mit einer Schwanzschnur voll mit Papierstückchen zu bauen. Wir gingen auf dem Dreieck Drachensteigen, das war ein kleinesweideland vor den Toren der Stadt.

Nicht lange tanzte der Drachen in der Luft. Das Zeitungspapier riss.Traurig zurück nach Hause. Nächste Woche wollten wir einen neuen Drachen bauen. Diesmal ganz und gar aus glänzendem Drachenpapier. Auch dieser Drache packt es nicht. Nach fünf Minuten schon macht derWind kurzen Prozess. Hab Mama gefragt, ob sie einen aus Stoff machen könnte. So einen, wie er im Schaufenster vom Scherzartikelladen hängt. Das chinesische Modell eines Drachen, der Feuer speit. Aus dünnen Bambusstöckchen und feiner Baumwolle.

Zwei Wochen später geht's auf nach Katwijk aan Zee. Kann es kaum erwarten, am Strand meinen Drachen steigen zu lassen. Fantastisch. Nichts reißt, nichts bricht. Mein Stoffdrache fliegt wie ein großer Vogel über der Brandung. Das Seil straff in meiner Hand.
„Herman, Herman, willst du ein Eis?" ruft meine Schwester aus den Dünen.
„Ja, aber ich kann nicht weg, ich lass doch meinen Drachen fliegen."
„Binde den Drachen doch am Halsband vom Großspitz fest!"
„Am Spitz?" Hm, er ist stark genug, warum eigentlich nicht? . „Sitz! Bleib! Bin gleich zurück."

Ich rannte zum Eisverkäufer und schleckte dann das Eis, so schnell, wie ich konnte. Scheinbar nicht schnell genug.
Den Drachen haben wir mittags beim Leuchtturm komplett wie- dergefunden.

Vom Hund fehlte jede Spur.



Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.