Annika Hand
16 VOR Trier
Der fliegende Holländer 19 okt 2009

Herman van Veen betritt die Bühne und wird von einem Beifall empfangen, als hätte er bereits alles gegeben. Von dem gediegenen Erscheinungsbild des niederländischen Künstlers in weißem Hemd und schwarzer Anzughose darf man sich nicht täuschen lassen. Keineswegs erstaunt über diesen Auftakt nimmt er den Jubel kokettierend entgegen. Zwischen Publikum und van Veen besteht am Freitagabend in der Europahalle von Beginn an eine große Nähe, mit welcher der Liedermacher spielerisch umzugehen weiß.

TRIER. Ihn festlegen auf ein Genre, eine Ausdrucksform, einen Stil ist müßig. Seelenmusik möchte man nennen, was er zelebriert. Weil er sich ganz einbringt, mit Leib und Seele, sich, sein Leben, sein Innen und Außen vollständig ausdrückt, wenn er singt, spielt, zaubert und tanzt. Und weil er einen Raum schafft für die Seele(n) seines Publikums.

Dieser Raum ist nicht unbedingt gemütlich und keinesfalls wohlgeordnet. Kein Refugium für geplagte Seelen, wie Klaus Hoffmann es erschafft. Kein abgeschirmter Ort für konspirative Sitzungen, wie Konstantin Wecker ihn einrichtet. Das Programm Herman van Veens: keine runde Sache. Sondern wie das Leben. Ein roter Faden entpuppt sich als bloßer Zufall, wird bedeutungslos und mit ihm alles, was an ihn gebunden schien. Eine zufällige Bemerkung, ein beiläufiger Gedanke entfaltet seine Wirkung erst lange, nachdem er geäußert wurde und wird zu einer Grundwahrheit.

Auf der Bühne entsteht eine Collage aus Spiegelbildern und Selbstportraits. Das Publikum darf mitgestalten und erlernt schon vor dem ersten Ton des Ensembles um van Veen die Kunst der Klangerzeugung: Hände aneinander reibend, mit den Fingern schnippend und mit den Händen auf die Knie trommelnd wird es zum Regenmacher, der die Atmosphäre des Liedes “Amsterdam”, Auftakt zu einem zweieinhalbstündigen Konzert, bildet.

Das Selbstportrait enthält vor allem Erinnerungen angesichts des unaufhaltsamen Alterns, dem van Veen wehleidig, aber auch hinter der Maske der Ironie ängstlich begegnet. Sein Rückblick erfasst in “Nach Hause”, “Anne” und in vielen kleinen Anekdoten seine Kinder, seinen Enkel. Drückt bedingungslose Liebe und unaufhörliche Sorge aus, stets verbunden mit Lachen und Schmunzeln.
In diese Idylle bricht immer wieder die Skurrilität des Bühnenprogramms, oder sollte man meinen: des Lebens ein. Van Veen lässt gerne auch mal ein Lied plötzlich abreißen, um etwas zu erzählen, Briefe eines alternden Leidensgenossen vorzulesen, einem Luftballon seinen festen Platz auf der Bühne zu zuweisen, Künstlerfiguren verschiedener Zünfte zu parodieren, mimt den affektierten Ballett-Tänzer, den grotesken Dirigenten, den glücklosen Zauberer, überzeichnet die befürchteten Gefahren des eigenen Alterns mit offenem Hosenstall und Unterhose auf dem Kopf, spielt den Betrunkenen und lallt “Warum bin ich so fröhlich?”, erzählt ein paar Witze. Treffen sich ein Ostberliner und ein Westberliner Hund, pinkeln sich gegenseitig an. Sagt der eine zum andren: “War hier nicht mal was dazwischen?”

Klamauk für den einen Teil des Publikums, der unaufhörlich kichert und prustet. Verwirrendes Konzept für den andren Teil, der in den Erzählungen die feinen Nuancen von politischer, gesellschaftlicher Kritik erfasst oder auch die deutlichen Aussagen vermisst. Das führt zu absurden Szenen: Wenn Van Veen Afghanistan mit Vietnam vergleicht, nicken die einen schockiert zustimmend, die andren lachen weiter und klopfen sich auf die Schenkel. Das Publikum wird zum Spiegelbild der Gesellschaft. Es geht dem Künstler auf den Leim und ist Teil der Collage: Mancher ist von den rasanten Wechselfällen zwischen Harmonie und Sinnlosigkeit heraus- oder überfordert, mancher nimmt es als dadaistisches Tollhaus.

Einigkeit, und das zeigt sich nicht zuletzt in den Ovationen des Publikums am Ende des Abends, herrscht jedoch sicherlich über die musikalische Qualität. Die Vielfalt Herman van Veens, des Dichters, Musikers, Schauspielers, ist atemberaubend. Zur Seite stehen ihm seine langjährigen Mitstreiter Erik van der Wurff (dezent bis ausdrucksstark am Piano) und die Konzertgitarristin Edith Leerkes, die ihr Instrument mit einer wunderbaren Mischung aus Akkuratheit und Leidenschaft beherrscht. Die überzeugenden Violinistinnen Jannemien Cnossen und Dorit Oitzinger komplettieren das Quintett mit Charme und sphärischen Gesangseinlagen.

Die zweite Hälfte des Abends forciert die dadaistischen Momente nochmals. Ein Gott sei Dank nicht vollendeter Striptease von van Veen verdeutlicht, dass Alter vor Torheit nicht schützt, die Wendungen werden noch abrupter, radikaler, Pingpongbälle sind mal Requisiten für ein Zauberkunststück, mal werden sie hundertfach ins Publikum geworfen, abschließend fallen sie aus einem Netz oberhalb der Bühne auf die Künstler. Zu jenem scheinbar roten Faden des Programms weiß auch Herman van Veen letztlich nur zu sagen: “Das mit den Pinpongbällen verstehe ich auch nicht”.

Einen Pianisten parodierend, der das Leben eines Künstlers beschreiben möchte, sagt van Veen: “Er wurde zerrissen von der Presse. Da war kein Streit, keine Ironie, keine Struktur. Einfach Musik”. Erst als er “hochkomplexe, gigakomplexe Musik komponierte mit starken dramaturgischen Wendungen, in seiner subtonalen Periode erhielt er herrliche Kritiken”. Einfach Musik wäre auch schön gewesen. Denn die kritische Aussagekraft der Texte droht unterzugehen im Dadaismus. Es besteht keine Notwendigkeit für van Veen, sich vollständig zum Clown zu machen.

Mitten im Leben stehend kann man kein Fazit über selbiges ziehen. Wahrscheinlich kann man es nie. Das dargebotene Programm lässt sich durchaus lesen als ein Blick Herman van Veens auf das eigene Leben, ohne zementiertes Resümee. Über den Abend lässt sich somit auch keine letztgültige Aussage treffen. Und eben das ist der Clou.