Herman van Veen
SH am Sonntag
Wölfe
19 aug 2009

„So sah ihr Tanz, so sah ihre Ausgelassenheit aus. Doch die Söhne der Wölfe balgten sich ohne Geräusch, wohl wissend, dass ganz in der Nähe der niemals nur halb eingeschlafene Mensch wohnt, sein Feind - erbarmungslos bewaffnet." schrieb der französische Dichter Alfred de Vigny im Jahre 1864.

Bin im Nationalpark du Mercantour in den Alpes Maritimes, nur anderthalb Stunden entfernt von Nizza in Südfrankreich.
Eine andere Welt. Da oben in den Bergen, unter dem ewigen Schnee, sind sie seit 1970 wieder zurück: die italienischen Wölfe. Jetzt offiziell als Naturgut durch das französische Gesetz geschützt. Ein Recht der Wölfe.

Man kann sie manchmal sehen, wenn man nicht tuschelt, wenn man dem Wind lauscht, und still steht wie ein Stein.
Dann siehst du sie. Zuweilen ein ganzes Rudel, wie spielende Hunde.

Zwischen zwei Bäumen, in 25 Metern Abstand, steht einer.
Erschaut mich an mit seinen gelbbraunen Augen, die Ohren gespitzt, mit einer zarten Nase.

Was muss das für eine Arbeit gewesen sein, so eine zarte, schwarze Nase in solch eine sanfte, braune Schnauze zu bauen.

Man sieht ihn beinahe nicht. Es könnte auch etwas anderes sein, etwas aus Holz.

Ein Busch vielleicht, ein Stumpf, der mit seinen Augen blinzelt.

Wir schauen uns einander an. Höre mein Herz pochen. Es hat Angst. Ich habe Angst. Habe ich Angst wegen dem Märchen? Ja. Ich erinnere mich allzu gut. Rotkäppchen.

Er ist auch ängstlich. Ich bin seine größte Bedrohung. Tausende Jahre schon weiß er, dass er und seine Familie auf dieser Menschenerde nicht willkommen sind.

Wer bewegt sich zuerst? Wer haut als erster ab? Ich weiß es nicht.
Ich steh' da noch immer und wage nicht, genau wie er, nur einen Fuß zu rühren.



Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.