Herman van Veen
SH am Sonntag
Der Engel
13 dec 2009

Oben, auf der Spitze des Weihnachtsbaums, stand ein Engel.
Wie er dahin gekommen war, daran konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern.
Er hatte lediglich noch eine vage Erinnerung an einen engen, dunklen Raum, aus dem er plötzlich von einer kleinen Hand in ein Meer von Licht gehoben wurde.

So muss es sein, wenn man geboren wird.
Und ab diesem Moment war er immerzu glücklich gewesen.
Dieses „immerzu" hatte eigentlich nur sinen Abend angedauert, aber für einen Weihnachtsengel ist das eine Ewigkeit.

Er wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass das Weihnachtsfest nur einen einzigen Abend dauert, und dass dieser beinahe schon vorbei war.

Er wiegte sich, mit einem Dosenverschluss am Baum befestigt, sanft hin und her und schaute durch seine Glasflügel auf die Lichter der Kerzen, die unter ihm brannten.

Auf einmal verlosch eine Kerze. Und noch eine und noch eine. Es wurde immer dunkler um ihn herum und zuletzt sah er nichts anderes als schwarze Nacht.

Zunächst dachte er, dass das vielleicht ein Spaß wäre, aber als es dunkel blieb, fragte er sich: Hätte ich wachsamer sein sollen, als es noch hell war?

Jetzt weiß ich es!
Aber ist es nun zu spät...?
Unsinn. Ich hab das Licht gesehen,
also ist es nicht zu spät.
Denn mir bleibt ja noch meine Erinnerung.

Und so erinnere ich mich an diese Geschichte.



Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.