Herman van Veen
Flensburger Tageblatt
Ganz wie zu Hause 8 augustus 2009

Hermann van Veen — eigentlich kommt der Sänger und Autor aus den Niederlanden. Dort wurde er geboren, dort lebt er bis heute. Doch es gibt noch einen Ort auf der Welt, an den van Veen nach Hause kommt. Ein weißes, reetgedecktes Hotel in Keitum auf Sylt, die „Insel auf der Insel".


Keitum/Sylt - Man fährt von seinem Haus in Utrecht fünf Stunden Richtung Norden. Steht unter Hamburg eine Stunde im Stau in einem Tunnel. Verpasst dadurch in letzter Sekunde einen Autozug. Von einer Lokomotive gezogen zuckelt man mit achtzig Kilometern in der Stunde über einen Deich quer durch etwas, das ein Meer sein könnte, einem Sonnenuntergang entgegen. Man sieht Abertausende von Ringelgänsen durch die Lüfte segeln. Man springt aus dem Zug. Noch zehn Minuten, und man ist wieder „zu Hause". Man steht vor einem weißen Gehöft mit Reetdächern in einer aufgeräumten Welt.

Der Benen-Diken-Hof sieht aus wie ein jüngerer Bruder von meinem Haus.
Unser Hof wurde 1460 gebaut, ist auch so weiß, auch so reetgedeckt, auch von solchen Bäumen umgeben, unter dem gleichen Himmel, hat eine ähnliche Auffahrt mit grasbedeckten Weidenbäumen links und rechts. Bei uns vor dem Haus steht keine Fahnenstange, an der eine weiße Fahne flattert mit der Aufschrift „Insel auf der Insel". Das Hotel Benen-Diken- Hof liegt auf Sylt, der größten der offensichtlich schrumpfenden nordfriesischen Watteninseln, einen Steinwurf von der dänischen Grenze entfernt.
Die Menschen sprechen Friesisch. Ein anderes Friesisch als auf dem Festland. Das Friesisch, das hier geredet wird, klingt, als wäre etwas im Kehlkopfstecken geblieben, die Wörter kommen wie gebremst und gebrochen, sie können nicht raussprudeln. Alles endet, wie es scheint, mit einem „um": Archsum, Morsum, Keitum - ein zerzaustes, betrunkenes Latein. Was auf dieser gemütlichen Insel alt ist, wurde in all den Jahren zumeist von pensionierten "Seemännern gebaut, die müde vom Fahren und Fischen, auf ihre alten Tage ihr Heil auf diesem grünen sumpfigen Schiff in flacher See suchten.

Der Himmel ist prall und altrosa. Noch immer flieger erstaunlich viele röchelnde Ringelgänse vorbei. Sie kommen von den französischen und englischen Küsten, die dunklen Vögel mit ien weißen Halsbändern, zu Fünfundsechzigtausenien. Sie hauen sich hier den tanzen voll und fliegen dann weiter in die sibirische Arktis zum Brüten. Viertauzend Kilometer in nur zwei Etappen. Die Tour de France ist nichts dagegen. Über den Tundren wartet niemand mit einem Gelben Trikot, keine Champs Elysee mitjubelnden und applaudierenden Menschen. Hier wartet schmelzender Schnee.

Ein herzlicher Herr hilft uns mit den Koffern und bringt mich zu meinem zimmer, durch schmale Gänge über enge Treppen, vorbei an Mauern, Gemäl- den und klei- nen Bildern. Alles blitzsauber. Meine Mutter hätte hier nichts aus- usetzen gehabt. Sie beurteilte die Qualitat der Menschheit am Staub auf den Fußleisten. kein Stäubchen, kein Fleckchen, kein Schmutz ist hier zu sehen. Dafür Pflanzen, Kunst und Kram. Mein Zimmer ist Ton in Ton, alles in einem pastellgelben Ocker. Die Rosen auf meinem Tisch haben die Farbe des Lampenschirms. Sind sie für die Lampe gezüchtet oder ist die Lampe für die Rosen geplückt? Kann es sein, dass auf dem Bettlaken zierlich gestickt mein Name steht? Man blickt auf einen Garten, eine frisch geschorene Hecke und Korbstühle. Eine Himmel, der jetzt bordeauxrot ist. Das Badezimmer ist, wie ein Badezimmer sein sollte: eine geräumige Dusche0, Bidet, WC, ein großer Spiegel, ein kleiner, der einem die Pickel vergrößert und praktisch ist beim schneiden der Nasenhaare, verwirrende Gestelle für die Handtücher, ein Bademan tel für einen schlanken Mann. Kleine Bilder mit abstrakten Kühen, gewür felten Schafen an der Wand. Alles ist angenehm.

Die Küche ist hervorragend. Ich kenne die französische, die spanische, die italienische, die chinesische, die indonesische, die japanische, die Küche meiner belgischen Frau. Alles top, wenn man die richtige Adresse weiß. Aber dass es auch eine großartige Sylter Küche gibt, dass da so raffinierte Geschmacksproduzenten am Werk sind auf einer Sandbank mit ein bissschen Gras , das wusste ich nicht. Ich fange an die ganse zu verstehen.Wenn ich normalerweise zuviel gespeisst und getrunken hat, zeichnen ich danach meine gedanken nicht gerade durch Klarheit aus. Dann habe ich normalerweise am nächsten Tag Probleme. Ein typischer Charakterzug von uns Niederländern: Wir haben alle einen etwas calvinistischen Einschlag und meinen, dass die Genüsse des Lebens eigentlich unzulässig sind. Ein Irrtum, von dem ich mich erst jetzt, nach fast 65 Jahren, langsam zu erholen beginne.

Keine Kopfschmerzen hatte ich, kein Völlegefühl, kein schlechtes Gewissen. Am nächsten Tag, the morning after, war ich erheblich weniger schwer als beim Zubettgehen am Abend zuvor. Vom Essen im Benen- Diken-Hof wird man also leichter. Meine Waage hat das bewiesen. Ein Segen.

Ich gelobe, mit großer Regelmäßigkeit in diesem kulinarischen Paradies Zwischenstation zu machen - wie die schnatternden Ringelgänse.


HERMANN VAN VEEN

Aus dem Niederländischen:
Thomas Woitkewitsch