Herman van Veen
SH am Sonntag
Sandalen
7 juni 2009

Einst wohnte Maurice Ravel Aufnahmen seiner eigenen Streichquartette bei. Er saß im Kontrollraum und machte alle möglichen Vorschläge. "Das war echt gut" sagte er am Ende. "Sag mir nur eben, wer der Komponist war."
Was hat man davon, 80 zu werden, wenn man keinen Namen behalten kann und im Salon die Hosen fallen lässt, um hinters Sofa zu kacken?
War man vor einem Jahrhundert statistisch mit 50 am Ende der Reise, sind wir mit der heutigen Lebenserwartung etwa 30 Jahre länger alt.
Mit dem Älterwerden nehmen unsere Zellen die Farben des Herbstes an. Das ist nur allzu wahr. Auch ich gehöre inzwischen zu den älteren Menschen. Weiß mehr und mehr von den Dingen, die vorübergehen. Sandalen zum Beispiel.
Seit einigen Jahren hab ich das Vergnügen, von meinem Gehirn unwillkürliche Bilder zu bekommen, von Dingen, wonach ich nicht gesucht hatte und deren Existenz ich selbst nicht vermutete. Erinnerungsbilder folgender Art: 50 Jahre nicht daran gedacht, aus derTiefe in den Oberboden des Gehirns, Bilder, die jetzt erst, im Alter, auftauchen. Die Bilder lösen einen Strom von Erinnerungen aus, aus einem, so scheint es, endlosen Bewusstsein. Klar, detailliert und intensiv. Sah gestern in meinem Kopf ganz unvermittelt die Sandalen, die ich einst als zehnjähriger Junge trug. Haarscharf auf meiner Netzhaut. Inklusive den Sandkörnchen, die durch das Seewasser auf den Schnürsenkeln klebengeblieben waren. Meine Sandalen standen zumTrocknen am Strand, auf dem Handtuch meiner Mutter. Katwijk aan Zee. Als ob es gerade eben geschähe. Herrlich.

Es ist eine neurologischeTatsache, dass Nervenverbindungen, die nicht gebraucht werden, absterben. Hört man auf, das Gedächtnis zu benutzen, dann wird es sich auch gewiss verschlechtern. Das Gedächtnis ist nichts anderes als beispielsweise Muskeln, die man durch Training stärken und vergrößern kann. Es geht dann jedoch nicht mehr um das Aufhalten sondern um das Behalten.

Hab die Sandalen angezogen und bin mit meinem Gehirn joggen gegangen.
Weil ich nichts mehr vergessen will.



Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.