Herman van Veen
SH am Sonntag
Lamm
5 april 2009

Die Sonne geht auf. Nebel hängt tief über dem Polder. Vögel beginnen zu zwitschern. Ein Specht drillt in einen Baum. Unter der Trauerweide kriegt Mama Mufflon ein Lämmchen.
Es strömt außer Atem, so scheint es, geräuschlos auf den Boden. Die Mutter leckt es ab.
Einige Hirsche kommen neugierig schnuppern. Vater Schafbock bleibt auf Distanz. Schwester Mufflon zeigt kein Interesse.

Der Nebel hat sich verzogen. Die Sonne strahlt. Das soeben geborene Lämmchen steht wacklig auf seinen hohen Beinchen. Läuft mit vorsichtigen Hüfchen durch das nasse Gras, „Wer ist das da?'; sehe ich es denken. Es läuft zu seinem Vater, riecht an seinem Hinterteil. Irritiert dreht sich der Mufflonbock um und stößt seinen gerade geborenen Sohn mit seinen gefährlichen Hörnern von sich weg.

Das Tierchen fliegt hoch durch die Luft und fällt zwei Meter weiter schwindelig auf die Erde. Ich denke, dass es nie mehr aufsteht. Kurz darauf rappelt sich das Lämmchen auf und taumelt zur Schwester seiner Mutter. Schnuppert ihr unterm Bauch herum auf Suche nach einer Zitze. Auch seinerTante missfällt das. Sie rammt das kleine Tier in die Seite. Ein Schrei. Das Neugeborene stürzt nieder. Als es liegt, bohrt die Schaftante mit ihren spitzen Hörnern in den zerbrechlichen Lämmchenleib. Ich will über den Zaun springen und denTieren einen Fußtritt verpassen.

Wieder steht das Lämmchen auf. Wie ein Betrunkenes schwankt es nun zu seiner Mutter. Die beschnuppert kurz ihr Kind und grast dann gleichgültig weiter. Erneut läuft es zu seinem Vater. „Mach das nicht!'; rufe ich. Ich befürchte, dass er es diesmal zu Tode rammt. Aber nein, es rappelt sich abermals auf und kriegt nun gleichzeitig auch noch die Hörner seinerTante in sein Bäuchlein.

Nach ungefähr einer Stunde und einer kaputten Unterlippe hat das Lamm seine Lektion gelernt. Dasjenige Schaf, das es nicht wegstößt, ist seine Mutter. Hat Milch und warmen Schatten.
Fünf Tage später. Die Sonne scheint. Ein kleines Mufflon bockt fröhlich über die Weide. Es kommt ihm nicht mehr in den Sinn, bei seinem Vater Milch zu suchen. Es läuft nicht mehr so mir nichts, dir nichts einemTier hinterher, das es nicht kennt. Geschweige denn zu dem Mann am Zaun, derjedenTag schauen kommt.



Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.