Herman van Veen
SH am Sonntag
Unvollkommenheit
2 augustus 2009

Anna Friesen ist 19 Jahre alt undTänzerin. Sie spielt mit in der Vorstellung, die wir im Augenblick in der kleinen, aber schönen deutschen Stadt Detmold (Kreis Lippe) proben. Einevorstellung, die die Geschichte einer deutschen Wirklichkeit erzählt. Anna ist bezaubernd, ich kann es nicht lassen, sie anzustarren.

Sie hat auf ihrem Kinn eine kleine Narbe. Eine Erinnerung an ein Unfällchen. Ich erzähle ihr von der Narbe, die ich an der linken Augenbraue habe. Das passierte damals, als ich als junger Bursche versuchte, den Mädchen im Schwimmbad zu imponieren. Ich wollte über sie hinweg einen Salto ins Wasser machen, hatte mich in der Entfernung verguckt und bin mit dem Kopf auf den Betonrand vom Schwimmbad geknallt. Es wollte nicht mehr aufhören zu bluten.

Anna erzählt mir, was bei ihr geschehen ist, das die Narbe hinterließ, die ihr vollkommenes Gesicht in seiner Vollkommenheit unterstreicht.

Realisiere, dass meine beidenTöchter an der gleichen Stelle wie ich, an der Augenbraue eine Narbe haben. Anne, weil sie gegen einen gläsernenTisch stieß, als wir Fangen spielten und Babette, meine älteste Tochter, weil sie vom Gepäckträger fiel, weil ich so komisch um die Ecke fahren wollte.
Stehen wir drei nebeneinander, könnte man denken, dass wir unter einer genetischen Unvollkommenheit leiden. Nein, so ist es nicht. Es ist meine Schuld.

Und das zu wissen, tut immer ein bisschen weh.
Diesen Schmerz spür' ich nicht, wenn ich Anna Friesen sehe.
Ihre Narbe genieße ich.

Schrieb nicht schon Heinrich Heine über die Unvollkommenheit:

„Nichts ist vollkommen auf dieser Welt, der Rose ist der Stachel zugestellt..., derTulpe fehlt der Duft..."



Herman van Veen (64) ist niederländischer Musiker, Entertainer und Unicef-Botschafter.
Seine Sonntags-Gedanken schreibt er exklusiv für Schleswig-Holstein am Sonntag.