Johannes Vetter
Neue Westfälische
"Verscheuch die Vögel nicht"

In der neuen Synagoge: Edith Leerkes und Herman van Veen ehren Selma Meerbaum-Eisinger
17 dec 2008

Bielefeld. "Rede sanft, weine nicht, schreie niemals", hatte Herman van Veens Tochter ih-rem Vater mit auf den Weg ge-geben. Mancher im Publikum in der voll besetzten neuen Bielefelder Synagoge allerdings kämpfte mit den Tränen. Das Wasser, das vom Himmel fallt, wenn Feuer, Rauch und Ruß aufsteigen, würden manche Tränen nennen, erzählte Edith Leerkes, Gitarristin und Sänge-rin an der Seite van Veens an diesem Abend.

Zauberhaft porträtierten die beiden die jüdische Lyrikerin Selma Meerbaum-Eisinger, die am 16. Dezember 1942, gerade mal 18 Jahre alt, in einem deutschen Arbeitslager in Michailkowa (Ukraine) an Flecktyphus starb. Und dann hatte van Veens Tochter noch gesagt: "Verscheuch die Vögel nicht!"

Herman van Veen erzählt die Geschichte seiner Begegnung mit Selma, deren Leben bereits gewaltsam beendet war, als er im März 1945 zur Welt kam. 2002 ist er auf ihre Lyrik gestoßen, kurz nach einem Konzert in Weimar, vor dessen Toren Buchenwald liegt: "Es gibt eine Schönheit, die trügt."

Was das Bemerkenswerteste ist an diesem Abend: Van Veen ist beneidenswert frei von jedem Betroffenheitsgestus. Der nieder-ländische Barde beherrscht die seltene Kunst, mit äußerst spar-samen Mitteln seine Zuhörerschaft in Bann zu schlagen - das bedeutet, erstellt sich mit Herz und Verstand in den Dienst seiner Geschichten, die dann zu Ge-schichten der Zuhörer werden.
Van Veen macht das mit seinen Augen, seinen knappen Gesten - hin und wieder ein fast ab-gewandtes Schmunzeln. Die hoch sensible musikalische Nähe zu Edith Leerkes versprüht einen, ganz eigenen Charme. Beide sind als Musiker einem dreifachen Dialog verpflichtet, dem Dialog untereinander, dem Dialog mit ihrem Anliegen, dem Dialog mit dem Publikum.
Ihre Musik ist zärtlich verspielt, mitunter witzig; sie kann von strenger Entschiedenheit sein, unabweisbar und doch so unaufdringlich, Dass Selma Meerbaum-Eisin-ger, die 57 Gedichte hinterlassen hat, unwiderruflich ermordet ist und dass van Veen und Leerkes sie mit einer so großen Zugewandtheit und Freundlichkeit lebendig machen, löst einen emphatischen! Schmerz aus, der dem mitfühlenden Zuhörer für einen Wimpernschlag die Unaussprechlichkeit der Shoa nahe bringt. Hinter den beiden Künst-lern sieht man den Tora-Schrein und die bildlichen Symbole der sieben Schöpfungstage.

Van Veen ist in vielen Genres zu Hause. Die Eindringlichkeit französischer Chansons ist prä-sent, und auch die ernste Ver-spieltheit von Kinderliedern. Bei Leerkes' Gitarrensoli bricht sich der Stolz spänischer Musik Bahn, und van Veen singt auf seiner Geige wie der "Fiedler im Ghetto". Er spielt mit Tonwie- derholungen wie kaum ein Zwei-ter. Ein und derselbe Ton, begleitet von immer anderen Akkorden, ist wie ein Gegenstand, der in ständig wechselndes Licht getaucht wird, also immer wieder neu ist, sich ständig verändernd; ein Stilmittel, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Schubert bedient sich im "Wegweiser" dieser Technik: "Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück."
Überhaupt klingt in manchen Beiträgen die untröstliche Trauer der "Winterreise" an.

Nachdem der enthusiastische Beifall kaum verstummt war, wurde die Synagoge mit Musik aus der Konserve beschallt. Das war völlig daneben nach diesem wundervollen Konzert, das noch nachhallen wollte.