MARTINA PLOTHE schreef 14 december 2006 in OZ


Herman van Veen predigt vom Wind, der Träne und dem Kuss


Rostock (OZ)

Noch während sein Publikum dem Ausgang zustrebt, greift er hinter der Bühne zur Geige. Spielt und lauscht und spielt. Als hätte er das Instrument nicht eben erst aus der Hand gelegt. "Anders" seien ihm die knapp tausend Zuhörer in der Rostocker Heüigen-Geist-Kirche erschienen, sagt Herman van Veen schließlich. Anders als beispielsweise die Hannoveraner am Abend zuvor. "Dort haben wir gefeiert, was jeder kennt. Hier war es eine Begegnung", sucht der Künstler nach Worten für den Unterschied. "Aufmerksamsein" registrierte er in Rostock für seine Interpretation der Weihnachtsgeschichte, "mit der hier nicht jeder aufgewachsen ist". Zwei Stunden zuvor hat van Veen, schwarz gewandet und schwarz-weiß beschuht, die Bühne betreten. Dutzende Kerzen flackern im bläulich erleuchteten Altarraum der neogotischen Kirche, von dem aus der Sänger, Geiger und Trommler mit Gitarristin Edith Leerkes agiert. Moin, moin grüßt er ins dicht besetzte Kirchenschiff. Und singt gleich darauf folgt von falschem Rat und verlorenem Glauben.

Van Veens Weihnachtsgeschichte beginnt in der eigenen Stube. Seine Familie, erklärt der Holländer, gehörte "nicht einer religiösen Genossenschaft" an: der Vater Sozialist, die Mutter, ohne Beziehung zur Kirche, verspottet den Großvater als "christlich-hysterisch". Die Großmutter aber liest dem Jungen aus der Bi- bei - auf der Bühne mit der Stimme Edith Leerkes'. Mehr als dieses eine Mal lässt van Veen übrigens seiner Begleiterin Raum als Solistin, begleitet sie seinerseits auf der Violine.

Van Veen philosophiert: Wie es wohl ums Christentum bestellt wäre, hätte die Frau des Zimmermanns Joseph dereinst ein Mädchen unter dem Herzen getragen? Und wie um die Welt, hätte Frau Schickigruber eine Tochter groß gezogen? Van Veen schockiert mit seinen Zeilen über das Tun der Herodes-Soldaten, und er missioniert mit seinen Worten über Gott: der Wind, eine Träne, ein Kuss - das sei Gott; zuständig für das Morden hingegen "sind die Menschen".

Van Veen und Leerkes singen, klopfen, trommeln ihren Protest;
sie streichen, zupfen, werben für die Liebe: auf deutsch, auf englisch, französisch, hebräisch, auf holländisch. Wichtig sei ihm seine Muttersprache, die er auf jeder Bühne hören lässt, damit im Ausland klar wird, "warum ich manches so merkwürdig ausspreche", zwinkert der Holländer. Dass ein verffüBter* Lacher Tiefsinnigem mitunter die Pointe abgräbt, das stört den 61-Jährigen nicht: Menschen assoziieren im Norden anders als im Süden, wird er später hinter der Bühne sagen. "Rot war in der DDR nicht die Tomate. Rot ist in Leipzig noch immer etwas anderes als in Paris."

Mit vielstrophigem "Kyrie Eleison" lassen die beiden ihren Auftritt enden: mit dem "Erbarme dich" für den Bäcker, der den Ofen nicht mehr anmacht, für den Lehrer ohne Chance zu unterrichten, für die Kinder im Keller, deren "Kummer, der nicht zu ermessen ist".

Vier Zugaben erklatscht, erstampft, erjubelt sich das Publikum. Die fünfte liefern die mit stehenden Ovationen bedachten Künstler freiwillig, bevor sie ihr Auditorium allein im Kirchenschiff zurück lassen.



Von MARTINA PLOTHE