Manfred Sack schreef 29 november 1974 in Die Zeit

ROTZNÄSIG UND WEISE




Es war schon dunkel im Theater. Man hatte dem jungen scheuen Gitarristen zugehört. Ich hing noch klängetrunken dem grad ver rauschten Solo nach, da traf mich eine Erbse an den Kopf. Es knat terte im Saal wie beim Kinderfeuerwerk vor Silvester. Dann sah ich im Gegenlicht der schwarzen Bühne eine Erbsenwolke vor mir nie dergehen, noch eine, und noch eine, und dann erklomm ein Mensch im wadenlangem feuerroten Mantel die Rampe, erbat sich flehentlich etwas vom Bühnenhimmel und bekam es, einen Klei derbügel. Er schüttelte die Hände aus, pfiff und sang ein Lied zu Tuba, Orgel und Gitarre: Herman van Veen.
Van Veen? Noch darf man fragen, wer das sei, ohne sich zu blamieren. Niederländer ist er, neunundzwanzig jahre alt, in Utrecht examiniert in Geige und Gesang und somit gegen einen dummen Vorwurf gefeit, er hätte nichts gelernt. Aus Körperlänge und Haltung ergibt sich zwanglos die Bezeichnung langer Lulatsch. Sein blondes, leicht gelocktes Haar fällt mit schütteren Wurf bis fast auf die Schultern. Die Augen sind, was man nicht sieht, aber ahnt, blau. Das sind die Personalien. Und was ist er?

Er ist alles. Er ist ein Unterhalter, wie ihn als so komplexe Figur sonst nur ein Lexikon zu montieren wagt: Er ist Sänger und Geiger, er hat etwas von einem Schauspieler und einem sprunggewandten Tänzer (mit der Fähigkeit zum Battement), er ist Pantomime, Parodist, Imitator, Geschichtenerzähler, kurzum: ein Spassmacher und ein Erzieher, ein Clown, wie die Zeit ihn braucht und ihn sich ja auch hervorgebracht hat: Weiser, Moralist und Rotznase.

Nur muss man gleich erwähnen, dass Herman van Veen, wenngleich der optimus inter pares, einer ist von vieren auf der Bühne, nur dass die anderen nichts als Musiker sind, aber was für welche! Ginge man danach, wie sie sich aufführen, fände man nur Wörter wie unauffällig, bescheiden, nützlich. Wendet man sich ihrer Musik zu, muss man ungleich höher langen : Sie ist von packender Originalität und in ihrer Art so unerhört unbefangen wie weiland die der jungen Beatles; Sie klingt oft gefährlich schön und wiegt sich sanft da- hin, aber dann fahren spröde Wendungen dazwischen. Nicht einen Augenblick lang ist sie sentimental. Das macht ihre Lässigkeit, das liegt nicht zuletzt an der pikanten Instrumentation und den ungewöhnlichen Klangfarben, die sie mischt, zum Beispiel Gitarre, Tu- ba, elektrisches Klavier. Manchmal wechselt die Bezetzung auf Baritonhorn, Flügel, Elektroorgel; es gibt eine Kesselpauke, die dann und wann geschlagen wird, und es gibt van Veens melancholisch jubelnde Geige. Wie allein die Tuba ihrer Tradition widerspricht: kein knapp geblasener subalterner Militärbaß, sondern ein sanfter Geselle von trockenem Humor. Es ist eine ganz wichtige Farbe im Arrangement. Der Bläser heißt Hans Koppes. Ein paarmal erfährt das Publikum etwas von der virtuosen Brillanz des Quartetts. Da wird man zuerst den Gitarristen Harry Sacksioni nennen, der mit seinem zweiten Solo einen Sturm von Beifall in Bewegung setzte. Da erinnere ich mich an ein Orgelintermezzo, in das sich die Gitarre einmischt und dann die Geige mit grellen Eskapaden, bis ihr die Melodie wieder entrissen wird vom Organisten und Pianisten, der wie keiner sonst diesen Abend musikalisch trägt man bemerkt ihn kaum, aber er ist die Seele vom Geschäft: Erik van der Wurff. Natürlich muß man den Geiger Herman van Veen nennen, der zum Beispiel auf der Basis dreier nach und nach hervorgeholter Töne ein spannendes kleines widerborstiges Stück mit rhapsodischen Temperamentsausbrüchen erzählt, dräuende Orgelklänge dazukriegt und der dann, laut Unverständliches stammelnd, aus dem Wohlklang springt.

Was dabei wichtig ist: daß diese Einlagen eigentlich Intermezzi sind, die zwei Nummern mit einander verbinden - wie in diesem Programm (das im wesentlichen überigens auf der Schallplatte " Inzwischen alles Gute", Polydor, enthalten ist) eigentlich jede Nummer aus der anderen entspringt und in eine andere übergeht; selbst die Pause fügt sich in das beziehungsreiche Netz der Show ein.

Im Grunde aber ist die Musik vor allem Komplementärfarbe des Textes. Gelesen bleibt manch einer blaß oder, wie "Der Bär", eine fast aufdringlich kindliche Verantstaltung: "Ich bin ein furchtbar großer dicker, brauner Bär, - schaut mal her, schaut mal her, schaut mal her!" Auf der Bühne hingegen, von Gitarre, Tuba und Kesselpauke akkompagniert und pantomimisch übersetzt, wird es ein Spass von so reiner Fröhlichkeit, daß Erwachsenendistanz wie nichts dahinschmilzt. Aber dann schreit van Veen plötzlich ,,Papi!'' und fährt normal fort: "Warum tut der Onkel so blöd? - Der wird daführ bezahlt." Ein Witz? Eine aus dem niederen Humor stammende Bemerkung, aber im Kontext viel weniger anrüchig: weil sie wie ein Blitzableiter funktioniert und das Gefühl neutralisiert, bevor es in die Gemüter fährt. Diese fünf (oder mehr) Prozent StÖrung sind Prinzip dieser Unterhaltung.
Ein paar Beispiele dazu : Van Veen erzählt flüsternd und mimisch ungemein bewegt eine lange, lange surreale Geschichte, die lustig und absurd zu sein scheint, bis sie durch bittere Arabesken real wird: "... und da überlegst du, ob du was zu essen kriegst (sechzig Prozent der Menschheit tun das auch)" und:"... da gehst du durch einen ganz, ganz engen Spalt und mußt die Ellenbogen ganz, ganz dich rannehmen, sonst brechen sie ab (was in manchen Fällen ganz gut ist)". Oder: er meditiert singend über die Geburt eines Kindes in "die Welt,"wenn": "Wenn du lieb bist, dann", und er spielt eine scheinbar reiche Kinderwelt vor mit Brummkreisel, Reifen, Bällen und endet mit dem hysterischen Schrei des Kindes "Das ist meins! Das ist meins! Das ist meins! Das ist meins, du Arsch!"


Er singt "Ohne dich", ein Liebeslied: "Wenn du die Tür schließt hinter mir, - dann sehne ich mich schon nach dir, - und mir kommt alles sinnlos vor - ohne dich." Aber schon in der dritten Strophe entkräftet er den Schlagerverdacht: "Gib mir ein Butterbrot mit Fisch, - Vielleicht macht Brot erfinderisch! - Ich hör' nicht auf, denn was beginn' - ich ohne dich;" Oder: er singt mit entwaffnender Selbstverständlichkeit sein schönes Lied "Ich hab' ein zärtliches Gefühl - für den, der sich zu träumen traut, - der, wenn sein Traum die Wahrheit trifft, - noch lachen kann" - und fängt die Rührung ab: "wenn auch zu laut."


Herman van Veen geht immerzu das Wagnis ein, Gefühlte hervorzurufen, aber er rutscht niemals ab in Sentimentalität. Und es gelingen ihm Lieder, die, sobald man die süße Kruste genossen hat, ihren bitteren Kern offenbaren. Da vereinigen sich zum Beispiel Geige und elektrisches Klavier zu einer betörend heimeligen Musik, dann deutet eine Dissonanz mit kurzem Schrei die Wahrheit an, die van Veen dann singend so mitteilt: "Auf dem Flur einer altmodischen Villa - lag tagelang, - tagelang und mehr - Oma Louise. Sie trug ein Kleid mit dunkelroten Blumen - einen Kragen aus weißem Batist, - eine Kette mit silbernem Kreuz. - Oma, - Oma Louise." Kein Wort von Einsamkeit, kein Ausrufungszeichen, aber alle denken es. So geschieht es, daß van Veens bittersüße Poeme viele Protestlieder an Wirkung übertreffen: Sie sagen mehr, weil sie nicht alles aussprechen.


Vielleicht ist sie intensiver, als man sich eingesteht, die allgemeine Stimmung, in die van Veen - wie neulich im Hamburger Schauspielhaus - sein Publikum versetzt, ehrlicher : verzaubert. Er kettet Gegensätze aneinander wie groteske Komik und versonnenen Humor; er ist graziös, ohne einen Deut an Männlichkeit einzubüßen ; seine unendliche Liebenswürdigkeit verträgt sich mit einer hintergründigen Aggressivität. Und er macht nichts zu richtig. Ausgenommen die Momente, wo der Ulk ins Schwitzen kommt, etwa bei den viel zu dröhnenden Sexualposen, mit denen er beispielsweise seine Rock-Parodie ausstattet und die im Vokabelschatz seiner Gesten wie Infurien fungieren - das ausgenommen, ist nichts in dieser Show forciert, weder durch Schmierenklamauk noch durch elektronische Kraftprotzerei noch durch Bühnentand. Alles vollzieht sich unaufdringlich, beiläufig, wie eine Privatvorstellung unter Freunden. Nur zweierlei muß ich da erwähnen : Das ist der in der Populärkunst ungewohnt sensible Umgang mit akustischen Verstärkern (Hans van der Linden), und das ist das Raffinement der Lichtkünste aus ein paar geschickt angebrachten, kaum sichtbaren Scheinwerfern an und über der schwarz ausgeschlagenen Bühne, auf der alle Versatzstücke ständig gebrauchte Gegenstände, nämlich Musikinstrumente sind.


Herman van Veen hat zwei Abschiede. Der erste ist seine durch das Fernsehen schon weiter bekannte Clownerie am Klavier, eine brillante Parodie clusterreicher zeitgenössischer Tastenkunst. Der zweite beginnt mit der Verbeugung, die eine Ballettfigur ist, die immer müder wird und ihn am Ende erschöpft auf die Bretter zwingt. Da liegt er - doch dann rutscht er vornüber ins Parkett, klettert bis in die vierte Reihe und verläßt den Saal über die Schöße seiner Lieben.
Nach der zweiten Zugabe ruft er ,,Raus! Raus hier!" und sagt: "Ich hab' kein Repertoire mehr ..." Er bringt es fertig, daß man ihn gern haben muß. Die Zeit, 29 november 1974



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